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Korrespondenz

Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot. Berlin, 29. Oktober 1800.

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Berlin d. 29 Okt. 1800.

Mein guter Aemil! Ich empfieng alle Ihre Brief—lein—gen. Unendlich süs waren mir — die linguistischen Lizenzen ausgenommen — „Abends im Felde“, „Unbestand des Lebens“, „24 Junius“, „Timon“, Commonprayer; und Ihre reiche anagrammatische Al geber des J. P. — Im Jakobischen Taschenbuch erscheint von mir „die wunderbare Geselschaft in der Neujahrsnacht.“komt erst 1802 heraus. Da ist auch endlich die 2te Edizion des Fixlein. — Tiek hat mich hier besucht. Ich lebe gern mit Bernhardi zusammen. Am Ende ist der jezige ästhetische Heuschreckenzug doch zum Abbeissen des schlaffen Grases gut; den Bäumen haben sie nichts an. Sie nehmen — wenn man 5 oder 6 partheiische Verblendungen pro und contra abrechnet — den Menschen und Autor, von einer höhern Höhe, als die Leipziger Lilli puter. — Von Herders Brust gieng ich mit wunder — ich finde hier alles, aber nicht ihn — Seit 3 Wochen stand ich beinahe jeden Abend unter einer neuen Stubendecke; sucht’ aber nur Weiber auf, schlecht die Gelehrten. Nicolai schrieb ein Buch über die Perücken und brachte es in dieser komischen Sache dahin, daß nicht der geringste Spas und Wiz darin aufstösset. Er selber sieht aus wie sein Thema. —

Ich hörte hier Mozarts Requiem; aber Sterbende hören vielleicht bessere Musik als sie sezen; dem grossen Geist war der Flügel verwundet. —

Ich lebe hier wie immer anfangs seelig — habe mit einem H. v. Ahle feldt 1 Bedienten, 1 Tisch, 1 Wohnung, lauter Jugend-Kommunitäten.

Ihre Reminiszenzen im Merkur — oft sogar meine, ob ich gleich vor Ihren schrieb — gefielen mir ganz, besonders der Humor. Volführen Sie Ihr Buch gewis? Machen Sie es so gut als Sie können: so häng’ ich ein Wirthshausschild daran entweder in einer Vorrede da zu, oder in einer Note im 2ten komischen Anhang.

Es fehlt jezt eine Moral für den Giganten-Geist der Zeit. Himmel! wie viel tiefe Gräber seh’ ich offen, die alle sich mit der Jezt-Welt füllen, — wie viele volle Sterbebetten von Zeit-Greisen in Religion und Philosophie etc.

Leben Sie wohl, mein Theuerer. Schreiben Sie mir von Ihren Fatis und Werken vor und in — Dresden. Der reine kindliche ein fache uneitle stille Geist verlasse Sie nie! —


Richter

Heute bekomm’ ich Ihren dritten Brief, worin Sie mir die Todes Nachricht lachend sagen, ich hoffe vor Schmerz.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot. Berlin, 29. Oktober 1800. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_13


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 13. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin Varnh. 213 (derzeit BJK). 4 S. 8°. K (nach Nr. 10): Thierot[!] 29. Okt. J: Denkw. 1,426. B: IV. Abt., IV, Nr. 9, 13, 15. A: IV. Abt., IV, Nr. 31.

Thieriot hatte eine Anzahl eigner Gedichte geschickt (H: Berlin JP) und 27 Anagramme des Namens Jean Paul (vgl. (vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), IV, Nr. 13). 12, 14f. Sterbende hören Musik: vgl. I. Abt., VIII, 388 (Fußnote), XII, 129,28 u. ö. 20 „Pythagoräische Reminiszenzen“ im Neuen Teutschen Merkur, Juli 1800, S. 207—216. 22 Thieriot schrieb an einem Roman, dessen 1. Teil Ostern 1801 erscheinen sollte, aber nicht zustande kam; vgl. Bd. III, Nr. 372, 270,13–19. 30 Anspielung auf den Nebentitel der Palingenesien: „Fata und Werke vor und in Nürnberg“. 33f. TodesNachricht: Thieriot hatte geschrieben, er habe seine geplante Reise nach Dresden aufgegeben, da statt seiner seine Mutter abgereist (gestorben) sei.