Von Jean Paul an Caroline Herder. Meiningen, 22. Oktober 1801 bis 2. November 1801.
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112,9
Verehrteste Freundin! Wär’ ich nicht in der Ehe — und Ruhe —
und Einsamkeit — und sogar brieflichen
Ab[ge]schiedenheit: so wäre
ein so langes Schweigen auf den schönsten
Doppel-Brief, den ich
je von Ihnen erhalten, eine eben so lange
Sünde. Ihre Reise nach
Franken und die unsrige nach Bayreuth und Kassel machen
die
112,15
schweigende Zeit kürzer. Mit dem ganzen
theilnehmenden Herzen,
womit ich in Ihrem Hause wie ein
daraus abgeschiedener Geist fort-
lebe, hört’ ich Ihren Ankauf, die
Promozion Ihres Oekonomen und
Ihre Reise. Nichts als was mich freuete, vernahm ich;
dahin gehört
zuerst das Gedicht über Heloise, das ein
algemeiner Enthusiasmus mir
112,20
schilderte und das ich mit einem ähnlichen —
suchte; denn ich bekomm’
es erst. Wenn nimt die Adrastea ihre Diamantenwage wieder? —
Ich sage hier dem herlichen liebenden Richter, der an
meinen Titan
so freundlich nicht die längste sondern die kürzeste Elle
anlegte und ihn
so nicht unter dem Rekrutenmaas befand,
allen den frohen Dank, den112,25
ein aufgemunterter Autor
und ein beglükter Freund nur bringen kan.
O es ist schön,
wenn der Fixstern, der uns den Weg beleuchtet, so nahe
herabtrit, daß er unsere Sonne wird, die wärmen kan.
Eben hab’ ich die Heloise gelesen — beinahe gesungen. Der
pro-
112,30
saische Aufsaz ist ihre
Zeichnung und der poetische ihr Kolorit. Mit
wenigen
plutarchischen Lineamenten — die sie und das Ideal weib-
licher Kraft umreissen — ist ihre
Gestalt und mit den lyrischen Farben
aus einem Herzen, das
selber ein fortdauernder Hymnus auf die
Natur ist, unser
Gefühl für sie gegeben und verewigt. Über alles rein113,1
und
hoch und schön ist der Todtengesang, der sich selber in Sphären
musik sezt. Auch meine Frau wurde innig
von dieser Wahr- und
Schönheit bewegt.
Gestern fand ich bei dem Herzog in der Zeitung die Standes-
erhöhung des über den Stand Erhabnen,
der den bösen römischen
Kaisern gleicht, die keine Götter achteten und zulezt
Götter wurden.
Aber ich errieth den kameralistischen Anlas,
den Sie mir — heute
durch Knebel schrieben. Meinen
Glükwunsch dem Churfürsten und
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mein Zähnknirschen der juristischen Harpye, die
Ihren Tisch besudeln
wil! — Goerz und der Churfürst mögen Sie von dem
überzeugen,
was ich Sie so oft versicherte, daß nämlich ganz
Deutschland ein
wenig anders urtheile und handle als zuweilen Ihre
unnachbarliche
Nachbarschaft. Und Ihr Mutterherz nehme
daran wahr, daß es113,15
ausser dem Vaterherzen in der
obern Stube noch ein zweites in der
obersten Stube —
jenseits der Höhe — gebe, worauf man bauen
kan. —
Von meinem Ehe-Empyräum und Glanz schweig’ ich ausgenom
men gegen meine Frau; wir kennen nur 1 Eden-Augenblik, das
ist
113,20
der unsers Findens und Habens und dieser ist noch
nicht aus. Un
gebeten geh’ ich jezt
schwer vom Lesetisch weg. Die Ehe lehrt Einsam
keit. Ich verlange nichts als Bücher, Berge und Bier; das
hab’ ich;
doch sehn’ ich mich — und dadurch könt’ Ihr
Wunsch wahr werden
— zuweilen nach einem andern und höhern Geist als den
gedrukten. —113,25
Wenn ich jemand zum Essen bei mir bitte
— was unendlich selten
geschieht — so bitt’ ich mich auch
mit, und erstaune dan über die
Ordnung am Tisch und glaube,
auswärts zu speisen. — Was macht
Büri und die Berlepsch? — Dem D.
Maier (der so malt wie der
Prof. Maier) meinen Grus und Fluch, daß er mir die in
seinen
113,30
Büchern bestehende Bezahlung meines Titans noch nicht geschikt.
Darf ich Sie um das ernste Mahnen dieses bösen Schuldners
bitten?
— Jakobi ist in Aachen und (im Winter) in Paris.
— Friede sei und
bleibe jezt mit dem Frieden! — Ich schreibe und lese hier
viel und bin
doch gesünder, weil mich keine Berliner-, Berlepschs-, Kalbs-Vor-
114,1
mitternächte aufzehren. — Meine Grüsse
aus dem Herzen des Herzens
an unsern primus acquirens — und an die Holde, die Tisch-Antipodin
— und an alle Ihre Kinder und meinen Dank für Ihr warmes
Denken
an den alten ernsten Paul
114,5
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Herder. Meiningen, 22. Oktober 1801 bis 2. November 1801. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_204
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 6 S. 8°; es folgen noch 2 S. von Karoline Richter. K (nach Nr. 205): Die Herder — J 1: Herders Nachlaß Nr. 43×. J 2: Denkw. 3,86×. B 1: IV. Abt., IV, Nr. 158. B 2: IV. Abt., IV, Nr. 181. A: IV. Abt., IV, Nr. 193. 112,28 die] aus und zugleich H 31 ihr Kolorit] aus das kolorierte Gemälde H 32 das] aus jedes H 34 aus einem Herzen] aus eines Herzens H 113, 2 der sich selber in] aus den eine H 3 sezt] davor gestr. gesezt ist H 7 Erhobnen K 12 Goerz] davor gestr. Jenes H 13 oft] nachtr. H 15 Mutterherz] Vaterherz K 16 Vaterherzen] aus Vaterherz H 20 Eden-] nachtr. HK 22 vom Lesetisch weg] aus aus H 23 verlange] aus brauche jezt H 25 und höhern] nachtr. H 26 bitte] aus habe H 29 Majer K 30 Mayer K seinen] nachtr. H 37 kan] nachtr. H 104,3 die Tisch-Antipodin] nachtr. H
Einlage des folgenden. Herders waren im August in Stachesried gewesen, einem Gute in Bayern, das Adelbert Herder gegen den Willen seines bisherigen Prinzipals, des Präsidenten v. Voelderndorff (s. Bd. II, Nr. 488†), erworben und das ihm diese „juristische Hyäne“ vermöge des Adelsvorrechts wieder abzunehmen gedroht hatte. Um dies zu verhindern, hatte Herder sich und die Seinen durch Vermittlung des Grafen Goertz in Regensburg (s. Bd. VII, Nr. 212, 79,8†) vom Kurfürsten von Bayern in den Adelsstand erheben lassen. Karoline Herder hatte diesen Sachverhalt in einem Brief an Knebel dargelegt, den dieser auf ihren Wunsch an Richter weitersandte. 112, 20 Herders im Viewegschen Taschenbuch auf 1802 erschienene „ Eloise“ besteht aus einer prosaischen Charakteristik der berühmten Liebenden und poetischen „Nänien an ihrem Grabe“. 23–25 Über den 2. Band des Titan hatte sich Herder sehr lobend geäußert. 113, 7f. Vgl. I. Abt., VIII, 278,31f. 23 Vgl. 26, 6. 24 Ihr Wunsch: Richters Niederlassung in Weimar. 29 Friedr. Majer, s. Bd. III, Nr. 348†; vielleicht sind seine kulturhistorischen Schilderungen gemeint. 30 Heinrich Meyer, Goethes Kunstfreund.