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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Meiningen, 20. September 1802 bis 21. September 1802.

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M[einingen] d. 20. Sept.[1802]

Lieber Alter! Dein Brief und Urtheil labte mich. Es braucht bei einer neuen Ausgabe des Titans nur Ausstossungen und im 1. [Band] entweder das Umschmelzen oder Vorausschicken der Jugendgeschichte. Im 4. Band ist kein einziges Fehlen oder Ich; eben so im 5. Ich bin nun mein Selbst-Sieger; und so sol künftig auch das Komische geschrieben sein. — Hast du meinen lezten vom 10ten erhalten? — Unter deiner Anlage zu Geschäften meint’ ich das: in die Strumpfweberei, Hausbauerei, Juristerei fandest du dich überal gleich schnel, mit einem seltenen Durchblik der Menschen, mit einer dir eignen mir abgängigen Kraft, eine Begebenheit rük- und vorwärts zu konstruieren und ganz ferne in einander zu ziehen und zu weben. Und das ist historischer Geist. Du sprichst von deiner Unentschlossenheit und Verlegenheit; ich habe beide nicht sonderlich, und doch keinen Geschäftsgeist, ob er sich gleich inspir[ier]en liesse. — Jezt erst durch dich freu’ ich mich recht über Hardenberg. — Deine Worte über meine frucht tragende Frau rührten mich innig. Du solst wie von einer Fürstin immer das Diarium ihres Doppellebens haben. Lange dauerts wohl nicht mehr. In dieser Nacht hatte sie bei ihrer fortblühenden Gesundheit fortwachende Schmerzen, die ich anfangs dem Reize der Verstopfung zuschrieb. Am Morgen fand die Hebamme — eine in Jena ächt ausgelernte, ein weises Man-Weib —, daß nach 2 Stunden die Entbindung sein werde. Um 11 Uhr erfolgte leztere mit einem götlichen Töchterlein. Himmel! du wirst entzükt auffahren wie ich, als mitten unter oder nach dem Stöhnen mir, der ich dabei blieb, die Hebamme mein zweites Liebstes wie aus der Wolke gehoben vorhielt, die blauen Augen offen, mit schöner weiter Stirn, kuslippig, herzhaft rufend, mit dem Näsgen meiner Frau — — Gott steht bei einer Ent bindung, wer ihn da nicht findet bei diesem unbegreiflichen Mechanismus des Schmerzes, bei dieser Erhabenheit seines Maschinenwesens und bei der Niederwerfung unserer Abhängigkeit, der findet ihn nie. Ich verhehlte, um zu schonen, so weit ich konte, meiner Frau die weinende Entzückung, wovon sie doch viel bekam und erwiederte. In der einsamen Stube hatt’ ich, die kühne Wahrheit zu reden — ach wie sehnt’ ich mich nach dir oder Emanuel — nur meine Entzückung und Gott und den Spiz. Wie ein Donnerschlag durchfährt die erste Erblickung Mark und Bein. Und nun jezt — da meine C. nach allen Regeln, ordentlich pedantisch schulgerecht fortgebar und da sie eben so nach Büchern (ihr Körper ist ein Buch) gehalten wird und ganz gesund da liegt — ihre Entzückung. Es ist ein grosses Kind, herlich gebildet und mir — was sie so freuet, wofür ich wieder bescheiden mich ans Näsgen halte — ganz aus den Augen geschnitten. Nur meiner C. wegen wünscht’ ich einen Jungen; ich aber sagt’ ihr, daß mir ein Mädgen lieber wäre, weil ein platter dummer Knabe doch mir wenig genügte (soviel Mittel ich auch als Vater hätte, ihn für das Gegentheil zu halten) und weil die Eltern-Erziehung an einem Knaben (das Universum, und die Vergangenheit sind seine Hofmeister) wenig vermöchte, aber an einem Mädgen alles, das an seiner 〈dieser〉 reinen festen hellen Mutter nichts werden kan als der zweite Diamant. —

Ich wolte dich überraschen und Emanuel; das unterstrichne s bezog sich blos auf das Diarium.

Nun ists gut und die Welt wieder offen und der Himmel und ich habe meine Frau wieder. Mitten in den Wehen heute brachte sie mir doch mein Frühstük von Pflaumenkuchen. Doch muste diese Geduldige schreien vor Schmerz. Ach wie lernt’ ich da die armen Weiber wieder achten und bedauern! Entsage nicht, mein Otto, der Hofnung desselben Himmels! Denn nach meiner Kentnis Euerer Naturen und der medi zinischen Geschichte, die von zarten nur späte Fruchtbarkeit erzählt, hast du noch nichts verloren als ein Jahr. Auch meine C. tröstete ich immer mit diesen Verspätungen.

Und die besten Leute hab’ ich um mich — die Pfartochter ohne Gleichen — die redliche Wartfrau — und die studierte Hebamme. Las mich schwazen vor dir und Emanuel und Amöne. Ihr seid die ersten schriftlichen Zuhörer. Die Herzogin-Mutter in W[eimar] und der hiesige Herzog baten sich s[elber] zu Gevatter dabei. Heute gieng ich zu ihm und bat ihn daß er mir zum schönsten Werk, das ich je ins Publikum gesandt aus der Presse, den Titel gäbe — Georgine (Es kriegt 100 Namen). Recht menschlich greift er ins Menschliche ein. Gestern schikt’ ich ihm eine im Namen meines Spizes verfaste Supplik.Des Revierens wegen sind alle Hunde mit Stadtarrest belegt, wovon ich meinen loshalf. Du kanst die Supplik haben. — Wie viele Gevattern, weis ich kaum; viele sinds; deswegen stell’ ich mich mehr meinetwegen in der ordentlichen Kleidung her, und bitte doch — wiewohl du dein eignes Isolatorium hier verdienst — dich. — Alter! Bewährter! Bleibender dem, der dir alles das auch ist.

Die übrige Antwort auf deinen Brief bleibe auf den nächsten verspart. Lebe froh, mein Bruder!

d. 21.

Karoline, sobald du den Brief ausgelesen, so schreibe blos Folgendes an den H. Gevatter:

geliebter Otto, wer ist seeliger als ich? Nun zwei so Geliebte. Amöne, freue dich meines Glüks! —

Liegend im Bett und mit dem Kind in der Linken geschrieben.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Meiningen, 20. September 1802 bis 21. September 1802. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_314


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 320. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 8°. K (nach Nr. 315): Otto — J 1: Wahrheit 6,245×. J 2: Otto 4,108×. J 3: Nerrlich Nr. 97×. B: IV. Abt., IV, Nr. 255. A: IV. Abt., IV, Nr. 259. 178, 13 20.] aus 19. H 16 entweder] nachtr. H 22 seltenen] nachtr. H Durchblik bis 24 weben] gestr. K (s. I. Abt., X, 221,15f.) 30 dauerts] aus dauert er [?] H 32 fortwachende] nachtr. H 179, 10 kühne] nachtr. H 11 nur] nachtr. H 14 fortgebar] aus fortgebahr H 17 bescheiden] aus das H 20 dummer] nachtr. H 22 Eltern-] nachtr. H 23 Vergangenheit] danach gestr. und Zu[kunft] H 23f. vermöchte] vermag K 27 bezog] aus bezieht H 34 Euerer] aus euerer H 35 von] aus bei H 37 mit diesen Verspätungen] aus damit aus so H 180,12 doch] nachtr. H

178,16 Vorausschicken der Jugendgeschichte: so hat es bekanntlich Gottfried Keller in der zweiten Fassung des Grünen Heinrich gemacht. 179, 4–7 J. B. Herrmann schreibt am 10. Juli 1788, als er einem Accouchement beigewohnt hatte, an Jean Paul: „... der zur Welt angelangte Mensch erhielt in mir den ganzen Tag eine fixe Idee, welche mich beym unwiderleglichsten Atheismus gezwungen haben würde, eine Gottheit — fast möchte ich lieber sagen: zu sehen, als zu glauben.“ (Schreinert S. 124.) 22–26 Vgl. I. Abt., XII, 225,2–4 (Levana § 81). 27f. Vgl. 178, 30. 33–37 Vgl. B: „Es ist mir seit deinem letzten Briefe, als ob ich selber deine schönen Hoffnungen hätte; da ich sie für mich wahrscheinlich nie haben werde, so will ich mich über diese so herzlich freuen, als wären es die meinigen, weil deine Kinder die meinigen sein sollen.“ Ottos Ehe blieb kinderlos.