Von Jean Paul an Emanuel. Meiningen, 26. April 1803.
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Lieber! Nach Empfang Ihres heutigen Briefes an C. schreib’
ich
214,35
folgendes an Sie:
Thieriots Hofmeisterthum war mir eben so unangenehm — da er
215,1
bei allen Talenten doch keine Kraft der Konsequenz und
Methode, nur
zerrissene Kentnisse und nicht die Gewandtheit der
augenbliklichen Be
handlung kurz unendlich
wenig von einem Lehrer hat — als angenehm,
da er ganz gewis
einen sehr guten Eleven erziehen wird, nämlich sich215,5
selber. Die moralische und wissenschaftliche Konsequenz 〈Stätigkeit〉,
welche Kinder fodern, bekomt er da Gelegenheit zu suchen und
zu
lernen. Wahrscheinlich wird er auch der Md. Stael gefallen. Erziehen
erzieht meist nur den Erzieher.
— Meinem Bier zufolge dürft’ ich etwan in 10 oder 12 Tagen
215,10
abgehen nach Coburg. Der
ganze Mai wird köstlich, der Juny ver-
mischt, July schlecht, August und Sept.
schön. Weiter reicht kein
Blik. — In Coburg ist herliches Coburger Bier. — Die Sage mit
meinem engen Logis kam durch die Frage eines hiesigen
Fräuleins an
eine dortige Edelfrau hieher. Kein Wort wahr;
denn ich fragte und215,15
fluchte sogleich gehörigen Orts. —
Der Herzog (den ich recht liebend
und gerührt, auf beiden Seiten, verlasse) behauptet steif,
Sie hätten
in Herders Adrastea den
Aufsaz über die Juden gemacht. Ich sagte,
ich dächte kaum. — Auf den Titan pass’ ich täglich, um an
Otto in
diesem briefdürren Jahre einmal zu schreiben, wiewohl ers
selber an215,20
gefangen. Ich schicke
Euch ganze frankierte Lasten fremder Briefe
zu — was doch immer viel ist — und Ihr beide mir keinen.
Grüssen
Sie ihn und er sol vergeben. Ich wolte, er
beschämte mich und schriebe.
— Die briefstellerische
Bescheidenheit meiner C. ist eine wahre, sie
lässet daher (ob ich gleich ihre Briefe allen andern
weiblichen vor215,25
ziehe) mich ungern
und nicht oft sie lesen.
Meine Frau ist ziemlich und so weit wohl als es sein kan, wenn
ich im künftigen Dezember wieder dem Kreuzschnabel und
Moose
gleichen sol, welche beide wie bekant gegen die
Naturgewohnheit ge
rade mitten in der
Kälte äzen und blühen. — Ihr Denken und Schauen215,30
auf das
geliebte Grab des guten Schaefers, der in anderm Sin
auch
seine Moosblüte in einem winterlichen Leben trieb und der nur
halb
genüzt vorüberflog, war mir sehr rührend. Leben Sie
wohl, mein
immer Guter! —
C. grüsset sehr. Sie hätte etwas darunter geschrieben, wäre
[nicht]
215,35
mein Obiges.
Es ist einerlei wohin Sie schreiben, da die Posten alles wissen.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Emanuel. Meiningen, 26. April 1803. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_363
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: SBa. 4 S. 8°. Vermerk Emanuels: 22 Mai beantw. K: Emanuel. 26 Apr. J: Denkw. 1,129×. B: IV. Abt., IV, Nr. 284. A: IV. Abt., IV, Nr. 287. 215,3 Kentnisse] aus Kentnis H 7f. und zu lernen] nachtr. H 8 Erziehen bis 9 Erzieher.] gestr. u. wiederherg. H 9 meist nur den] nachtr. H 16 gehörigen Orts] nachtr. H 19 täglich] nachtr. H 27 als] danach man K 29 die] alle K 30 Denken] danach gestr. an H 31 in anderm] aus im andern H 33 vorüberflog] aus dahinflog H
215 , 1–9 An Thieriot war durch Schlichtegrolls Vermittlung der Antrag ergangen, Erzieher der Kinder der Frau von Staël zu werden, eine Stelle die später Aug. Wilh. Schlegel übernahm. 15 Edelfrau: s. 223, 33. 18 Adrastea, 7. St., S. 142—152 „Bekehrung der Juden“. 28—30 Vgl. I. Abt., X, 390, 7–10 .