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Von Jean Paul an Christian Otto. Meiningen, 1. Mai 1803 bis 6. Mai 1803.

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216,5
Meiningen d. 1. Mai 1803 [Sonntag].

Ich wil heute das Blätgen anfangen, das erst, Gott weis wenn,
der Titan auf seinen Schultern mitnimt. Von dir erfahr’ ich leider
Hunds wenig — du von mir doch überal her —, indes dein Amt und
alles dich in 1000 kleine Novitäten verwickeln mus, die ich, wenn216,10
ich darin wäre, dir treulich schreiben würde. So wär’ es auch deine
Pflicht, mir von Emanuel — da ers selber nicht thut —, von Albrecht,
Amoene, Friederike, Wernlein
u. s. w. viel zu melden. Wie ists mit
deinem Parallelismus? Ich bin auf den Eindruk des lezten Drittels
auf mich begierig, da ich jezt wieder — durch Augenzeugen und all[es] 216,15
und englische Geschichte — ein leibhafter Engländer bin und nur
in England noch die Freiheit, die Göttin-Mutter der Göttinnen, an-
zutreffen glaube, fals blos von hiesiger Erde die Rede ist.


Ich nehme jezt die Novitäten nach der Ancienneté in meinem
Schmierbuch vor. (Heute oder jezt ist Sontags Nachmittags; denn216,20
dan ist mir nach meinem Arbeits- und Lese-Reglement durchaus er
laubt, zu thun was ich wil) — Du wirst dich hoff’ ich besinnen, daß
du alle deine Briefe an mich noch hast; und länger als bis du sie
selber bringst, darfst du sie nicht behalten, sondern kürzer wenn du
nicht bald komst. — Ich las den aufgelegten, mehr dummen als bösen216,25
Shakal wieder; gewis machte ihn Kirsch, schon wegen des Arabischen.
Auch wolt’ er früher das Publikum über mich berichtigen. — Das
goldne Kalb lies wegen der Einfälle, ist aber doch des Jenensischen
Lobs nicht ganz würdig. Lies Novalis Schriften zuerst; Engels mise-
rab[les] Eid und Pflicht aber nicht — Schillings Werke laufen Ein- 216,30
mal gut mit durch, das Fegfeuer u. a. frühere sind gut. — Erinnere
mich einmal mündlich daran, daß ich dir über die „Ritter für Freiheit
und Recht“ d. h. deutsche Veimer, für deren Orden v. Hompesch 217,1
(auch zum Herzog) reisete, das erzähle, was ich bis dahin noch behalten
werde ausser dem Abscheu. —


In deiner seeligen Gegend must du unter dem neapolitanischen
April südlich herliche Stunden gehabt haben, besonders an den Feier217,5
tagen, wo ich oft an deine neuen und unsere alten Gänge dachte. —
Die Leute hier meinen es sehr gut mit uns; keinen Feind hatt’ ich
hier — nur sind ihrer zu wenig für mich und was da ist, wil nicht viel
sagen und sagt auch nichts, mein alter herlicher Präsident Heim aus-
genommen. Der Herzog bleibt mein alter ungestörter Freund und 217,10
schliesset sich immer wärmer an; und es thut mir weh, daß ihm meine
Flucht wehe thut, die er sich und ich ihm nicht erklären kan. Ich be
halte mir neben ihm mehr Freiheit als neben jedem andern Menschen,
und er ist von mir Abschlagen und alles schon gewohnt. Er hat einen
unschäzbaren Vorzug — den er mir schenken solte — er ist nie launisch217,15
nachtragend. — Mein Gottwalt wächst verdamt heran, und misset
schon 26 Bogen. — Für meine ästhetischen Untersuchungen, die so-
gleich nach ihm erscheinen, hab’ ich 100 Einkleidungen, deren Auswahl
ich nicht anders zu treffen weis als daß ich alle 100 wähle. Komst du
zu mir: so mus über alles sehr gesprochen werden. — Süs ist mirs,217,20
wenn mich junge Autoren mit ihren jungen Autorschaften beschenken,
weil ich diese um ½ Preis an den hiesigen Apotheker ablasse, bei dem
ich dafür umsonst lese, wiewohl er seit der Milch-Versezung leider auch
Geldversezungen bei mir erlebte. Seinen Bruder D[oktor] überrascht’
ich mit 4 Ld’or ungemein; und doch mus ich wieder überraschen, da217,25
er die Kleine — die ich oft Schwenzelenz nenne — eingeimpft. Gold
mus man stets früher machen als Kinder, behaupt’ ich.


Wahrscheinlich giebt dir Emanuel meine Briefe an sich; aber dan
bist du mir auf alle, die Antworten schuldig und es ist unverantwort
lich, das Nicht-Antworten und die Ungleichheit; denn du schreibst hier217,30
an niemand etwas, das ich zu lesen bekäme. Emanuels Briefe werden
immer wiziger und dadurch kürzer; Wiz und Kürze wohnten stets in
1. Feder, ja beide sind am Ende nicht zwei sondern 1. — Mein poe
tisches System hat sich weit von meinem alten und von der Bewunde
rung für Leute wie Wieland, Haller, Ramler, Gesner etc. verloren; 217,35
und ist sehr Schlegelisch geworden. In meiner Aesthetik sollen 2 gleich
scharfe und gerechte und wahre und dadurch partheifreie Abhand
lungen gegen und für die neue Parthei auftreten; denn jede Wage218,1
hat 2 Schaalen.


Meine Handschrift wird täglich verflucht schlechter, ich mags an
fangen wie ich wil.


6. Mai.
218,5

Endlich an Ottilienstag gehts fort an dich. Ums Himmels Willen
lasse die unerrathbaren Drukfehler korrigieren. Ich hätte so über alles
gern dein Urtheil früh; aber diese Freude wird mir deine verschiebende
Weise lang entziehen. Der Herzog sagt, der König sei den 1 Jun. in
Hildburghausen. Möge dein Pfingstfest keine Ausgiessung des Adlers 218,10
stat der h. Geists Taube stören. Lies oder schreib’ doch bald! Ende
künftiger Woche bin ich in Coburg. Leb wohl.

Jezt hab ich die hübsche Arbeit, dieselbe Sache zum 4ten mal an
4 Fürstinnen schreiben zu müssen.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Meiningen, 1. Mai 1803 bis 6. Mai 1803. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_365


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 372. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 6 S. 8°. K: Otto 6 Mai. J 1: Wahrheit 6,267×. J 2: Otto 4,123×. J 3: Nerrlich Nr. 100×. B: IV. Abt., IV, Nr. 277 u. 281. A: IV. Abt., IV, Nr. 290. 216,11 wäre] aus bin H schreiben würde] aus schreibe H 13 viel] aus mehr H melden] aus schreiben H 16 und englische Geschichte] nachtr. H 17 in England] aus da H 18 fals] aus wenn H 19f. in meinem Schmierbuch] aus meines Schmierbuchs H 20f. denn dan ist] aus hier hab’ ich H 22 ich1] ist H 25 aufgelegten] aus neuen H 29 Engels] davor gestr. auch H 217,3 werde] aus habe H 6 neuen] nachtr. H alten] nachtr. H 7f. keinen Feind hatt’ ich hier] nachtr. H 9f. mein bis ausgenommen] nachtr. H 14 von mir] nachtr. H 17 26] aus 28 H 20 sehr] nachtr. H 22 ablasse] aus verkaufe H 23 dafür] nachtr. H 28 sich] aus ihn H 31 etwas] aus was H 37 und wahre] nachtr. H

Mit dem 4. Band des Titan. 216, 14 Parallelismus: s. Bd. I, Nr. 418†. 25f. Shakal: s. 73, 7†. 26 Kirsch: s. Bd. I, Nr. 195†; Otto erwiderte, er traue das Buch Kirsch nicht zu. 27–29 „Das goldene Kalb“, Gotha 1802, vom Grafen Bentzel-Sternau, rezensiert Allg. Literaturzeitung, 12. Febr. 1803, Nr. 45; vgl. I. Abt., XI, 130,25† (Vorschule der Ästhetik, § 36). 29f. Joh. Jak. Engel, „Eid und Pflicht“, bürgerliches Trauerspiel, Berlin 1803. 30f. Gustav Schilling, „Das Leben im Fegfeuer“, Pirna 1801. 217, 1 Wohl Joh. Wilh. Freiherr v. Hompesch (1761—1809), der damals zur Übernahme der Bayern neu zugefallenen Gebiete nach Franken abgeordnet war. 8f. Vgl. 193, 9f. 22 Apotheker: Jahn, Bruder des Doktors (s. zu Nr. 154). 32f. Vgl. Vorschule der Ästhetik, § 45.