Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Berlin, 19. November 1800 bis 23. November 1800.
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22,1
Mein guter Heinrich! Endlich schwieg ich so lange wie du, — aus
Mus. Wenn man seine Spuhlen in Weimar wegwirft und neue in
Berlin einsezt, um den Lebensfaden — den bunten —
aufzuwinden:
22,5
so braucht man das dazu, was die Kantianer Zeit
nennen. Müde wich
ich aus W.; hier werd’ ich durch
Weiber erquikt und durch mänliche
Trivialität ermattet, so
daß ich mich fast aus den hiesigen klein
städtischen Gelehrten wieder zurüksehne nach ächter genialischer
Spizbüberei in Jena und W. Es ist etwas tieferes als Unterscheidungs-
22,10
Sucht, daß der Mensch sich von
jeder geistigen Krankheit gerade in der
Stadt am leichtesten
heilt, wo sie grassiert. Doch hab’ ich hier keine
Gelehrten
aufgesucht, höchstens Künstler. Ach der Jugend-Wahn
ist
vorüber, der zu berühmten Leuten treibt; und ich sag’ es aller Welt,
daß ich nur noch einen persönlich kennen lernen wil — dich.
Nur dich,22,15
Heinrich — Wir mögen es uns verhüllen wie
wir wollen, so suchen
wir in Menschen — die uns im Lande der
Seeligen, nämlich im poeti
schen (auf
dem Parnas) erscheinen — Volendete, (so in Geliebten und
Freunden) und verzeihen keinen
Fehl; wir suchen überal Götter in den
Menschen, blos weil
jede Liebe unendlich ist und also Götter braucht. —22,20
Und daher wirft uns ein makelhafter Autor so hart vom Parnas ins
Thal — er sol volendet sein wie sein Werk. In Weimar fehlte mir
dazu die Illusion, obgleich die Leute da am meisten
approximieren. —
Die Menschheit — die intellektuelle, nicht
die moralische — ist bald
auswendig gelernt, und man könte
ein Menschenfreund der Herzen und22,25
Menschenfeind der
Köpfe zugleich sein. Warlich, einer der ewig
hienieden
lebte, stürbe 1800mal an der Langweile der algemeinen
Repetizion durch Wiederbringer.
Fräul. Röpert sagte mir viel von dir (wie Frau v. Berg) —
Man
mus mir dich unaufhörlich schildern, ob ich mir gleich
getraue, dich noch22,30
besser jedem zu schildern. Die Röpert hat 2 kindliche Augen, in welche
Paul wie in ein Herz versinkt, und ihres ist so
entschieden und from.
Apropos! ich habe mich verlobt; mit einer, die ich ungesehen seit
vielen Jahren wolte und dachte; mit einer Tochter des
Geheimen
Obertribunalsrath Mayer
— künftig mehr. —
22,35
Schleiermachers (der mir als Mensch sehr gefält) Reden
über die
Religion les ich wieder, und finde ausser der herlichen
elastischen Hülse
noch den markigen Kern. Du soltest ihn
frei lesen. (Es ist schwerer die23,1
neuesten Philosophen so
unbefangen wie alte zu lesen als umgekehrt
alte als neue) Sein Unterschied von dir ist (glaub ich) daß
er das
Unendliche nicht individualisiert, was doch immer
menschlicher ist
als das Umgekehrte, die Individualität ins
Unendliche zu zerlassen.23,5
Mich erquikt diese Schreiberei, weil ich keine Seele habe, an die
ich etwas dergleichen mündlich oder schriftlich richten
könte, da die
höchste philosophische Wilkür sich so selten
mit religiöser Entäusserung
zusammenfindet.
Dasmal kanst du mir Glük wünschen, weil ichs habe — nämlich eine
Verlobte, die Tochter des
Geheim[en] Obertribunal Raths
Mayer.
Ich kan dir sie aus Zeitmangel hier nicht malen; sie hat
das was ich
bisher auf so vielen Irwegen aufsuchte und
unterscheidet sich dadurch
eben scharf von der vorigen Caroline. Im Winter verbraus’ ich mich
23,15
gar hier, und dan zieh’ ich mit ihr in die Ehe und
in einen Ort, den ich
selber noch nicht weis.
Jezt nur einige Antwort auf deine! Ich schmachte nach einem
Blätgen aus deiner Lebensgeschichte; und bitte dich, nur diesmal eine
Ausnahme mit deinen epistolarischen Moratorien zu machen.
—23,20
„Die wunderbare Neujahrnachts-Geselschaft“ sende mir wieder
1) weil ich sie jezt für ein anderes Werk brauchen kan 2)
weil ich etwas
darin ändern mus 3) weil ich sonst das aus
Vergessenheit irgend wo
wiederhole, was ich darin gesagt 4)
weil ich dir immer etwas liefern
wil wie du es brauchst.
Dein Schauder vor der tiefen Perspektive der23,25
langen
langen Zeit hat mich unter dem Schreiben und schon öfters
ergriffen; nur nicht so stark wie dich. Die Unendlichkeit kan sich der
Nichtigkeit nie fürchterlicher gegenüberstellen.
Baggesens Schreiberei über den Titan hat mich geärgert, zumal
da sie bei ihm wieder aus Aerger über meine an ihn
entstand. Ein23,30
Viertels Buch könt’ ich zu seiner
Widerlegung verschreiben. Du
scheinst mir den Geist, den ich
im Buche widerlegend darstellen wil,
mir selber
zuzuschreiben. Der zweite Band wird dich schwerlich schon
widerlegen, ob sich hier gleich Roquairols Negerseele schon aufdekt. Da
dir mein bestes Kapitel, das vom Lilar-Sontag, das für
mich, den
24,1
Instrumentenmacher, selber ein Stimhammer ist, nicht
gefallen: so
kan ich für den Titan wenig von dir hoffen, eher
für ein anderes nahes
Werk, was mehr in der Siebenkäsischen Manier ist.
Reinholds herliche, das Gebäude aus dem Grunde heraufschraubende
24,5
und erschütternde Rezension des Schellingschen
Idealismus hab’ ich
mit Entzücken immer wiederholt. Wenn giebt er denn seine
philo
sophische Geschichte?
Mein jeziges Leben hat mich ziemlich vom Märzfelde der Philosophie
weggeführt. —24,10
Mit Freuden hör’ ich von deinen Anstalten zu einer neuen Auflage
des Woldemars. Aber wenn komt dein
Alwil ganz?
Begnüge dich mit diesem Brieflein, das sehr von der Jahrszeit und
dem sandigen Geburtsort an sich trägt. Grüsse die
Jüngerinnen deines
Herzens. —24,15
Stolbergs Peripetie nehm’ ich von der moralischen Seite
hier in
Schuz; und ich begreife nicht, was den guten aber rohen
Voß zu
seiner Intoleranz berechtigt.
Lebe wohl, mein Geliebter! Sei mir noch gut und — schreibe mir
bald—igst!24,20
N. S. Ich finde in der ersten Hälfte meines Briefs das alte
Schwazen wieder; aber die Freundschaft mus es erlauben:
sag’ ich
nicht, wenn ich zu dir eintrete, heute ist
herliches Wetter, ob ich gleich
weis, daß du es ohne mich
weist?24,25
Meine Adresse: neue Friedrichsstrasse N. 22.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Berlin, 19. November 1800 bis 23. November 1800. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_37
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°. Präsentat: Jean Paul e. d. 3ten Xbr. 1800, b. 25ten (nicht erhalten). K (nach Nr. 30): Jakobi 19 Nov. 23 N. J: Jacobi S. 72. B: Bd. IV. Abt., III.2, Nr. 422. 22,7 erquikt] nachtr. H durch mänliche] aus Männer- H 8 ermattet] aus erquikt H 17f. im poetischen] nachtr. H 20 und also Götter braucht] nachtr. H 30 unaufhörlich] nachtr. H 32 entschieden] aus fest H 23,3 alte als neue] nachtr. H 4 menschlicher] besser K 7 da bis 9 zusammenfindet] nachtr. H 11 ichs] aus ich dieses H 16 gar] nachtr. H einen Ort] aus eine kl[eine Stadt] H 28 gegenüberstellen] entgegenstellen K 30 da] nachtr. H 24,3 nahes] nachtr. H 13 Brieflein] aus Brief H
22, 8–10 Vgl. 18, 22f. 23, 21–28 Jacobi hatte geschrieben, solche Betrachtungen wie in Jean Pauls Neujahrnachts-Gesellschaft hätten für ihn etwas Fürchterliches, infolge jener Eigentümlichkeit, von der er in der zweiten (vielmehr dritten) Beilage zu seinen Briefen über Spinoza geredet habe. 24, 1 mein bestes Kapitel: die 8. Jobelperiode, die auch Wieland besonders gefallen hatte. 3f. ein anderes nahes Werk: Flegeljahre. 5f. Reinholds Rezension: s. Bd. III, Nr. 509, 365,5†. 11f. Zu einer neuen Auflage des Woldemar kam es nicht, und Allwill blieb unvollendet. 16–18 Jacobi hatte geschrieben, er sei von Eutin geflohen, um Stolberg, den er unaussprechlich liebe, nicht wiederzusehen.