Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Meiningen und Coburg, 14. Mai 1803 bis 8. September 1803..
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234,21
Ich wil deinen Brief ein wenig beantworten, ob ich gleich noch
nicht deine gedrukten, unendlich begehrten, aus Leipzig
habe und also
meinen nur spät abschicke, wahrscheinlich erst aus Coburg. Über die
234,25
Adrastea bin ich deiner Meinung ganz, aber über den
Verfasser nicht
der göthischen. Adrastea anlangend, die seine strafend wird, so sind
seine Tischreden viel genialischer, weil seine Drukreden
zuviel politische
Tendenz und Scheu und Hülle haben; indes
gehören breite Flügel dazu,
so viele entlegne Felder zu
überschweben. Und seine Leichtigkeit der234,30
Geburt und
seine Fruchtbarkeit gehören doch auch auf die Rechnung
seiner Kräfte. Aber Göthe hat „über die Saifenblasen“ selber Saife
nöthig. H[erder]
besteht aus einem ½ Duzend Genies auf einmal,
denen
blos ein alle bindendes, besonnenes Ich fehlt, ohne
welches
keine Philosophie und Poesie sich volendet. Wie
die Weiber, hat er234,35
sein Ich nicht zweimal, sehend
und gesehen; daher fehlt ihm die hohe235,1
Freiheit, ein
feindseliges Individuum zu verstehen und zu benuzen.
Völker,
deren Individualität immer nur eine Idee, stat einer An
schauung wird, hat er herlich konstruiert wie noch kein
Autor; und doch
kein Drama, nicht einmal ein leidliches
Gespräch. Lezteres fodert235,5
höchste Gewalt über Mensch
und Sache zugleich. Darum ist Plato so
dichtend. Dein Dialog im Hume ist
noch nicht genug gelobt worden. —
Über H[erder], über seinen
passiv-poetischen Geist, der durch die
kleinste Handlung
geht, über seinen feinsten Kunstsin, über den heiligen
griechischen menschlichen Zartsin seines obwohl ungestümen Herzens;
235,10
— und wieder über seine Selbstquaal und seinen
Selbsttrug, über den
Schattenkampf mit einem Wetlauf der
Zeit, dem er selber die Schran
ken
geöfnet u. s. w. darüber brauchte man ein Buch für andere; — und
für dich nicht diese Seite, da du ihn ja persönlich kenst.
Ein anderer
könte mit der Hälfte seiner Kräfte Wunder thun.
Er ist eine Welt,235,15
hat aber keine zweite, worauf er
stehen könte, wenn er jene regen wil.
Da ich noch anno 1782, 83, 84 den
genial[ischen] Platner hörte —
der im Hörsaal philosophieren, und nur unter der Presse
Philosophie
lehrt —: so vernahm ich schon von ihm (ich
habe die Periode ganz
verkehrt angefangen), daß Spinoza
eine dunkle tiefe Kluft vol ge-
235,20
fährlicher Kräfte sei und daß
dieser damals noch in der Mitternacht
schleichende Geist
ein Nez habe, das eigentlich über Gott und Uni
versum zugleich reiche, wenn ers überwerfe. Platner hat
eine höhere
vieläugigere Denkseele als er in die wolfischen
Paragraphen-Zellen
bannen kan. Jezt verdrüsset mich an ihm seine unsägliche
Leipzigische
235,25
Eitelkeit.
Meinem Französischen — ob ich dir gleich künftig folge — thust du
einiges Unrecht; 1) billigten es geborne Franzosen und
Französinnen
(z. B. die Fr. v. Sydow vorige F.
v. Montbar) und Deutsche 2) darf
die Poesie nicht die gemeine Sprache aufnehmen, 4)
[!] haben nur235,30
manierierte Karaktere z. B. Froulay ein französisches
Idiotikon —
5) magst du etwas Recht haben — 6) hab’ ich die Unart,
Französisch
ins Deutsche zu mengen, zumal im Affekt oder
in der Verlegenheit,
zumal bei Weibern, oft gefunden. Selber die Herzogin von
Hild-
burghausen sagte mir, daß ihre Mutter deutsch anfange,
immer mehr
235,35
gallisiere und endlich ganz; aber nichts davon
wisse. Freilich begräbt236,1
die Zeit diese Sprach-Verpestung
jedes Jahr um einige Schuhe tiefer.
Guter Heinrich! Alles hab’ ich erhalten, nichts gelitten und doch
geschwiegen. Auch bei dem Schweigen kostets nur den ersten
Schrit.236,5
Als ich lange auf dein Buch warten muste:
kam ich überhaupt ins
aktive Warten; und dan — da du mich
doch immer ins passive seztest
und einmal 1 Jahr auf zwei
Antworten lauern liessest — glaubt’ ich,
ich könte so wohl
gar noch etwas erringen. Doch Sommerreisen und
starkes
Arbeiten sind auch meine Advokaten. — Jezt hab’ ich mir236,10
geschworen, leider deine Krankheit immer vorauszusezen und
daher nach
nichts zu verlangen als was ich — bekommen.
Über deine 3. Schellings Briefe! So vortreflich der 1. geschrieben
ist — da du, ungleich unsern andern
transszend[enten] Schreib
Meistern durch Alter an Stil gewinst —
so steht er doch als blosse236,15
faktische Darstellung
der falschen, weit dem eigentlich philosophischen
nach,
nämlich er war fast entbehrlich, da ja Schelling gedrukt ist und
du zu lange von dir sprechen must. Aber im 2ten herschet deine grosse
Philosophier-Manier, die den Körper des fremden Systems durch
den aus dessen Blute extrahierten Geist mit einigen Tropfen
umbringt.236,20
Dein einziges Gleichnis p. 252 1 — 1 = ist in dieser Sache ein
Buch
werth; und ist noch dazu mehr eine Gleichung als ein Gleichnis.
Und das 2te vom Gelde. — Gott und
der Arzt gebe, daß du dein Ver
sprechen
p. 274 hältst. Wizig polierst du den Dreieinigkeits
Ring, aber
Schade ist, daß du einen Edelstein, den du mir
aus Hamburg darin
236,25
mitgeschikt, daraus ausgebrochen. Dein Köppen ist
klar und tief aus
deinem Meer geflossen. Man hört ihn wachsen, so schnel.
Doch gelten
viele Einwürfe gegen Schellings Absolutum auch
gegen jedes, gegen
jeden Gott, wenn er in Worte und Begriffe verkörpert
werden sol.
Über Schillers Braut? Das würde zu lang für meine Eile.
Doch
236,30
halt’ ich sie für griechischer als den Wallenstein. Auch las ich sie nur
fliehend im Mspt.
Linda? — Himmel! wie kontest du, ja sogar irgend jemand
hier
irren? Ihr Denken, Lieben und Fallen halt’ ich für mein
bestes Werk.
Aber wie sol ich, ohne eines zu machen, dieses
vertheidigen? Titan
236,35
solte heissen Anti-Titan; jeder Himmelsstürmer
findet seine Hölle;
wie jeder Berg zulezt seine Ebene aus
seinem Thale macht. Das Buch237,1
ist der Streit der Kraft mit
der Harmonie. Sogar Liane 〈Schoppe〉
mus durch Einkräftigkeit versinken; Albano streift daran und leidet
wenigstens. Gaspard verliert seine Palme etc. Freilich ist
dein Morgen-
Gedanke richtig — aber spät —, daß
Linda eine Titanide ist, doch237,5
mehr ein weiblicher
Alwil 338 als ein Roquairol; denn sie hat noch
nicht ihre Liebe in Liebeshändeln und Versen verpuft.
Warlich die
Leser sind alle Albanos gegen sie gewesen. Wie
übersahen sie denn:
ihre Achtung für listigen Weltverstand und ihren Mangel an
Sorge
und Achtung für Menschen p. 204 (das ächte Zeichen unweiblicher237,10
Liebe) — ihre Erziehung bei der phantastischen Mutter und die Gesichts
Aehnlichkeit — ihre Faulheit 219 — ihre Liebe gegen Medea
239
und Mirabeau 135 —
ihr[en] Has auch der schönen
Wirklichkeit —
ihre Freigeisterei über Unsterblichkeit, über Selbstmord,
Moralität
p. 158. 203. 191. — ihren Has der Reue 195 und des
Besserns 156 —237,15
und aller Gesezmässigkeit ausser als
äussern Schein — und ihr Lob des
Wollens — ihr Urtheil über
Roquairol 192 — und ihren Has der
Ehe, worin ja ihr Fal schon stekt. Ihre Liebe —
aber nicht die weib
liche, selber der
Fürst sagt, sie liebe weder Kinder noch Hunde ,
sondern die unweibliche wie sie Roquairol hat, daher ihr Gegensaz
237,20
von der prosaisch sorgenden Julienne und der
poetisch noch mehr
sorgenden Idoine; daher ihr Fodern des Aufopferns mänlicher
Zwecke — ihre Liebe, ihre erste,
südliche, ist jezt ihr Herz, dem sie
sogar durch
Ehe die Freiheit opfert. Und mildert diese einen Fal kurz
vor der Hochzeit nicht? Noch mehr Milderungen: sei mein guter237,25
Genius sagt sie zu Roquairol 377 — ihre Jungfräulichkeit
nach dem
Abfal und die Scheu der nächsten Zukunft — und ihre ruhige
Los
sagung von Albano, was kein
weiblicher Roquairol gethan hätte,
so daß sie hinterher nichts auf der Welt weiter lieben
wird als ihr
Kind. Wie, wenn Rabette und Gustav gegen ihre Grundsäze fallen
237,30
konten, warum nicht sie noch besser an ihren? — Aber Idoine wäre
nie nur der fremden Versuchung zum Falle nahe gekommen;
denn
darin besteht alles, im Zulassen der kleinsten Sünde, die eigentlich
die
gröste ist und wird. — Und dieses arme immer wahrhafte
von
einem Teufel zerrissene Wesen wilst du einen
„ekelhaften Drachen“237,35
nennen? Roquairol log ewig, sie
nie. Jener wurde indes selber durch
sein Zerreissen zerrissen und ich halte jene Nacht für
mein sitlichstes
Kapitel. Wie ihn der Affe der Fürstin
fürchterlich karikieret, so er als
238,1
Affe den Helden, der sich auch manches Ungethane vorwirft.
Verlegers „Zwingen“ und gar zur „Kürze“ kenn’ und duldet’
ich
nie.
Aber Albano hat nun auf dem Throne einen Kreis seiner Kräfte238,5
p. 63. 64. — kent das geheime Gift seiner Aehnlichkeit
(denn Linda
spielte seine Rolle gegen Liane nach) und kan nun mit den
Wunden,
die ihm von den Todten gegeben wurden, nicht sofort ins
Kinder-Eden
der ersten Liebe hinein, sondern mus die
Liebe und die edle Idoine erst
in der Ehe kennen lernen: wie kont’
ich da die lezten Szenen verlän238,10
gern? — Sapientissimo sat!
Auch ich bete Gustav Adolph an. — Bouterwek wil ich
lesen. —
Zu Ostern geb ich 2 Bände Flegeljahre, worin alles sanft, mild,
komisch und ohne Titanismus ist. Im Winter schreib ich
endlich meine
„Programmen“ oder ästhetischen Untersuchungen. — Mein
Kind
238,15
blüht. Im November bekomt es eine
Geschwister-Blüte. — Gott
schenke dir andere Tage und Arzeneien. Vergieb mein
Schweigen so
wie jezt mein Eilen.
Bouterwek wil ich lesen. Sei mir halb so gut als ich dir. Solte denn
238,20
der Brownianismus an dir allein scheitern?
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Meiningen und Coburg, 14. Mai 1803 bis 8. September 1803.. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_401
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 13⅔ S. 8°. Präsentat: v. Jean Paul Friedr. Richter e. d. 21ten Sept. 1803. K: Jakobi 14 Mai—8 Sept. J 1: Roth Nr. 295×. J 2: Jacobi S. 108× (vollständiger in Bd. 29 der 2. u. 3. Reimerschen Gesamtausg.). B: IV. Abt., IV, Nr. 286. 234,27 Adrastea] aus Jene H die bis wird] nachtr. H 28 viel] nachtr. H 30 entlegne] nachtr. H 34 alle] nachtr. H welches] aus das H 235,12 einem Wetlauf der Zeit] aus einer Fortschreitung H 16 zweite] nachtr. H worauf] aus sie um auf der H 17 1782,83] aus 1783 H 18 philosophieren] aus Philosophieren H (kaum umgekehrt) 20f. gefährlicher] nachtr. H 24 vieläugigere] nachtr. aus vieläugige H 31 manierierte] aus manirierte H 33 zu mengen] nachtr. H oder in der Verlegenheit] nachtr. H 236,7 seztest] aus sezest H 11 nach] nachtr. H 13 deine .. Briefe] aus deinen .. Brief H 16 faktische] nachtr. H 17 und bis 18 must] nachtr. H 20 mit einigen Tropfen] nachtr. H 237,7 in] aus durch H 8 übersahen] aus sahen H 11 ihre bis 12 Aehnlichkeit] nachtr. H 13 und Mirabeau 135] nachtr. H auch der schönen] aus schöner H 15 203.] nachtr. H 16 und2 bis 17 Wollens] nachtr. H 17 Wollens] aus Willens H (kaum umgekehrt) 21 prosaisch sorgenden] nachtr. H 22 Aufopferns] aus Opferns H 23 Herz] davor gestr. Schein- H 27f. Lossagung] aus Entsagung H 29 weiter] aus mehr H 31 ihren] aus ihnen H 34 immer wahrhafte] nachtr. H 37 sein Zerreissen] aus seine Sünde H 238,5 auf dem Throne] nachtr. H 11 Sapientissimo sat!] nachtr. H sat] aus satis H 15 ästhetischen] nachtr. H
234,25 ff. Jacobi hatte sich über die Adrastea unzufrieden geäußert: „Herder wird in seinen Produktionen immer loser und lockerer, madreporischer ... er zerstreut mich, ohne mich zu erfrischen. Es muß ein ganz eigenes Unebenmaß in seinen Kräften sein, denn was hätte nicht sonst aus ihm werden müssen.“ 32 Goethes Äußerung ist im Druck von B ausgelassen. 235, 8 passiv-poetischer Geist: vgl. Vorschule der Ästhetik, § 10. 27ff. Jacobi hatte anscheinend die französischen Stellen im Titan beanstandet. 35 Die Mutter der Herzogin Charlotte wie auch ihre Stiefmutter, beides Prinzessinenn von Hessen-Darmstadt, waren schon 1782 bzw. 1785 gestorben; gemeint ist wahrscheinlich die Großmutter, Prinzessin Georg von Hessen-Darmstadt, geb. Gräfin von Leiningen (geb. 1729), bei der die Enkelinnen aufgewachsen waren. 236, 13ff. Gemeint sind Jacobis drei Briefe an Friedrich Köppen, die als Anhang zu Köppens Werk „Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts“, Hamburg 1803, erschienen. 21 Im Druck lautet das Gleichnis: 1 — 1 + 1 = ½. 23f. Versprechen: eine neue zusammen- fassende Darstellung seiner Philosophie zu geben. 25 aus Hamburg: vgl. 166, 15†. 30–32 Die Braut von Messina hatte Jean Paul vermutlich Anfang Februar 1803 in Weimar kennengelernt; der Vorlesung Schillers am Geburtstage des Herzogs von Meiningen hat er wahrscheinlich nicht beigewohnt, vgl. Nr. 346†. 33ff. Die Stelle über Linda fehlt im Druck von Jacobis Brief; die von Jean Paul angezogenen Stellen finden sich I. Abt., IX, 448,2–4 (145. Zykel), 351,34ff. (125. Zykel), 291,17–20 (115. Zykel), 437,9ff. (142. Zykel), 298,6ff. (116. Zykel), 307,9 (117. Zykel), 260,15 (110. Zykel), 270,13ff. (111. Zykel), 291,10f. (115. Zykel), 285,21ff. und 287,10 (114. Zykel), 269,27–30 (111. Zykel), 152,3f. (92. Zykel), 121,18ff. (87. Zykel), 369,32f. u. 367,1–6 (128. Zykel), 227,18—37 (105. Zykel). 237, 30 Gustav: in der Unsichtbaren Loge (37. Sektor). 238, 12 Otto schreibt im Brief an J. P. IV. Abt., IV, Nr 290 (3. Juli 1803), er könne Jean Pauls Ansicht von Gustav Adolph nicht teilen. Bouterwek: wohl dessen „Anfangsgründe der spekulativen Philosophie“, Göttingen 1802.