Von Jean Paul an Emilie Dorothea Friederike Harmes. Coburg, 27. März 1804.
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Ausser der Gewißheit Ihrer Erscheinung konnte mir nichts so über285,5
raschend erfreulich sein als Ihr Brief voll
alter schöner Zeit, vor
treffliche
Freundin; und er hat mir die reichste Nachfeier meines
Geburtstages gegeben. Mit alter und neuer Entzückung zugleich werd’
ich Sie wiedersehen; und ich glaube schöner und besser als je.
So
zerflattert wie in Leipzig bin ich nicht mehr; manche
Veränderungen
285,10
sind hoffentlich zu Aehnlichkeiten mit Ihnen geworden;
z. B. über die
Mine unter Europa, über Frankreich streit’ ich
jetzt nicht mehr wie
sonst gegen Sie, sondern für Sie. Ganze Bücher, ein ganzes
Leben
haben wir uns zu sagen; und ich freue mich unsäglich
auf unsern
Zusammenklang. Meine Frau wird durch die moralische
Idealität
285,15
ihres Sinns gewiß Ihre Liebe gewinnen, und dadurch
einen Himmel
der Sympathie, welchen die hiesige platte matte
Weiberwelt ihr ver
sperrt. Bei meinem
Mädchen und Knaben werden Sie wie der Vater —
(der ein kleiner Kinder- und Erziehungs Narr geworden und in
schwer-
sten Arbeiten die Emma um sich hat) —
nicht wissen, welches das285,20
schönere oder gesundere ist;
und ich hoffe, daß ich Ihnen Beweise der
strengen Kunst zu
einer rein-menschlichen Erziehung durch meine Emma
geben
kann.
Unsere himmlische Gegend wird Sie, zumal nach der kalten leeren
Tenne Ihrer Gegend, wie mit Eden-Blütengärten umfangen. Das285,25
Hauß Ihrer Frau Tochter ist das schönste der Gegend.
Ueber den Titan wollen wir viel reden. Linda mußte fallen;
und Sie
schmeicheln nicht sich sondern ihr mit zu vieler
Aehnlichkeit. Zu Ostern
kommen von mir Flegeljahre — zu Michaelis ästhetische Program-
men, welche mehr für Ihre Seele geben
werden. Ihren Gemahl wünsch’
285,30
ich unbeschreiblich gern zu sehen, schon weil er der
erste Mann ist,
der Sie glücklich
gemacht; denn die andern haben immer den Himmel
in einige
Hölle gegossen und so eingegeben. Und alle Schilderungen
legen
ihm den Ehren-Namen Mann im höheren Sinne bei.
Mit meinem Herder starb mir Weimar und fast die ganze idealische
285,35
Zukunft. Sein Grab wirft nun einen langen Schatten,
der mich und
meine Freuden überall erreicht. Mein einziger
Trost ist, daß ich ihn286,1
recht innig und unaussprechlich geliebt
habe.
Leben und reisen Sie glücklich, geliebteste Freundin. Und entziehen
Sie mir nicht um Eine Stunde Ihre Ankunft! (In Leipzig können
Sie
Mad. Mahlmann, die liebende Schwester meiner liebenden Frau
be-
286,5
suchen.)
J. P. F. Richter
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Emilie Dorothea Friederike Harmes. Coburg, 27. März 1804. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_455
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: Die Berlepsch 27 März. * J: Berlepsch Nr. 11. i: Denkw. 2,136×. B: IV. Abt., IV, Nr. 338. Die zwei eingeklammerten Sätze standen im Original vielleicht als Fußnoten. 285,17 welcher J
Emilie, deren Tochter (Lichtenberg) in Füllbach bei Koburg lebte, hatte zu Pfingsten ihren Besuch — ohne ihren Mann — angekündigt und gefragt, ob sie willkommen sei; sie glaube zwar fest an Jean Pauls unveränderliches Wohlwollen, aber nicht so an seine Freundschaft, wie sie das Wort verstehe. 285, 11–13 Vgl. Bd. VI, Nr. 73†. 27f. Vgl. Bd. III, 305,33f. Emilie hatte die erste Hälfte des 4. Bandes vom Titan mit Entzücken gelesen, das Ende hatte sie gequält: „Wie konnten Sie grausam genug sein, uns so von Linda zu trennen? Daß mir diese Linda das liebste, nächste, lebendigste Wesen im ganzen Buch ist, werden Sie leicht glauben und erklären. Aber eine Linda kann so nicht fallen.“