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Von Jean Paul an Christian Otto. Berlin, 10. Dezember 1800 bis 26. Dezember 1800.

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28,22
Berlin d. 10 Dec. 1800 .

Jezt geht meine Noth an, nämlich der lange Brief. Zuerst von
meiner Caroline. Ihr Vater — ein philosophisch-kantisch-ofner Kopf, 28,25
der mir bessere Aufsäze vorlieset als Herold versteht, ein äusserst
moralischer und weicher liebender Man — erzog seine 4 Töchter (die
älteste 〈1te〉 hat Hofrath Spazier, die 3te bei der Mutter lebende
heirathet jezt Mahlman) weil er sich von seiner Frau geschieden, mit
der doch (auf seine Erlaubnis) die Kinder in Liebe leben, lieset abends28,30
mit ihnen Rousseau etc. und gab ihnen — besonders durch den leben-
d[igen] Kiesewetter — eine philosophische Glätte. Oft wenn Tochter
und Vater Nachts so innig Abschied nehmen von sich: thut mir mein
künftiger Ris zwischen beiden weh.


d. 19. Dec.
29,1

Aber wie mal’ ich dir dieses heilige Herz? Erstlich hat sie alles Gute
von den Cidevants-Carolinen; und zweitens nicht das Schlimme;
und drittens Gesundheit ohne Gleichen, Schönheit (ein unter den
Deutschen seltenes schwarzes-sanftes Auge, Madonnenstirn, artistischen 29,5
Hals und Busen und Wangenroth und alles) Aufopferungsliebe ohne
Gleichen, Bescheidenheit, Offenheit etc. Die flammendste Liebe für mich
brent ihr auch nicht Eine Seite zu irgend einem menschlichen andern
Ton des Mitleides etc. ab. Sie hat die wärmsten Freundinnen unter
Weibern und Mädgen sogar adelichen Standes (denn hier ist sogar in29,10
Geselschaften, wo es so viele Spielzimmer giebt als in andern Spiel
tische, die Verbindung zwischen Bürg[er] und Adel ohne Zeichen der
Naht volendet); und die mitfreuenden Besuche die ihr über die Nach
richt unserer Verlobung zuströmten, bewiesen ernstlich wie sehr die
Berlin[er] uns beide liebten. Als meine Braut wurde sie auf die 29,15
Feuerprobe manches Auges gesezt, über dessen heisser Pflugschaar sie
unbeschädigt weggieng. Wie viel ich seitdem, da der Vater so viele
Verhältnisse hat, Wein trank und unter wie viel verschiedenen Stuben
decken, das ermis selber. Daß ich mich blos sonst geirt habe und blos
jezt nicht — und daß ich nie schuld war — [ am Rande: ☞ eine29,20
Pfote in margine ] seh’ ich jezt, weil ich seit unserer fast ¼jährigen
Gegenwart nie mit ihr eine neblichte oder gar gewitterhafte Stunde
gehabt, ohne die sonst keine erotische Woche vergieng. Ich liebe sie
mit allen Jugendkräften des Herzens, und allen Nestorskräften der
Vernunft. Ich puze sie sogar — mich nicht —, weil sie kalt gegen29,25
Anzug (obwohl nicht gegen die jungfräuliche Nettigkeit desselben) ist
und ihn jezt meinetwegen anthut wie ihr neues herliches blaues Kleid
beweiset; zu welchem ich noch ein weisses atlass[enes] à  4 Ld’or gethan
samt dem Hut von 1 L. Könt’ ich ihr mein Herz als ein goldnes über
〈ohnweit〉 ihres hängen als Schmuk: so zög [ich] es heraus und29,30
fädelte es ein. Zwischen uns giebt es nun nichts mehr was uns trennend
kalt machen könte als der Tod. Der Vater verehrt, die Tochter ver-
göttert mich.


d. 24 Dec.

Noch in diesem Säkul sol er fort. Da sie keinen Brief, den sie an29,35
einen 3ten schreibt, von einem 2ten (und wär ichs) gelesen erträgt: — ob
sie mir es gleich doch anbot — so bekomst du hier lieber einen Brief
von ihr an dich. — Im Frühling zieh ich schon des Biers und der30,1
Gegend wegen aus diesem Freudensaal wohin? — Sag’ es! — Und
in die Ehe. — Der Titan wird nur 13 Bogen stark; der Anhang
mehr. — Auch bei dem Minister Struensee as ich 2mal (über-
morgen bei dem Minister Schroeter Die Hardenberg hatt ich 30,5
noch keine Zeit zu besuchen. — Ich war endlich hier in allen ge
lehrten Zirkeln, Vielecken und Dreiecken. Wenig wenig! — Genz sah
ich bei dem Minister A. 〈Alvensleben〉; ein treflicher Kopf, mit
eigennüziger Rohheit im Gesicht. — Auch der alte Teller, der mich
gleich nach unserem Sehen einlud, liebt mich sehr wie ich ihn. Den30,10
sanften Spalding, der mehr um als in seinem vermooseten Körper
oder Grabmahl schwebt, besucht ich auch. — Sende mir der II C[aro-
line]
Briefe gar, oder einen Restanten, ich mus ihr alle schicken. —


Die gute Gräfin S[chlabrendorff] , die ich vor 8 Jahren besser er-
rathen hätte, hat den treuesten wärmsten kindl[ichsten] Karakter. Sie30,15
kan opfern — sogar ihren Willen — wie keine. Sie liebte mich immer
heftiger und wolte mich — heirathen; welches ich erst von ihr erfuhr,
da sie über meine Nachricht der Verlobung krank wurde. Dies Faktum
des Willens ist wahr und erklärt manches andere schiefe. Ich brachte
Ahlefeldt zu ihr und er — ob er gleich eine andere heftige Liebe zu 30,20
e[iner] Ehefrau hatte — folgte dem Bach, der ein ziehender Strom
wurde, welcher ihn im Frühling an das eheliche Ufer absezt. Ich liebe
Ahlefeldt jezt um ½ weniger; er ist ein sentiment[alischer] Alliebhaber
etc. Wie ich daher diese algemeine empfindsame Briefschreiberei nach
überalhin hasse! Im Vertrauen! Ich kan nicht mehr so viel aus den30,25
Menschen machen wie sonst, obwohl mein Handeln gegen den ärmsten
Teufel dasselbe ist. — Für, aber nicht gegen die Schlegel kan ich mich
schlagen. Tiek, Schleiermacher (Fichte seh’ ich nicht, er las nie
hier) Bernhardi, Genelli und Maler Buri sind mein genial[isches]
Pankrazium. Der wieder zerlumpte Lumpen Merkel, das Sprach- 30,30
und Hörrohr der erbärmlichsten aller Welt-Seele, — ihn verdros mein
frohes Benehmen gegen ihn am meisten; endlich kam er zu mir, sagte,
nur das Gerücht, daß ich mich zur Clique geschlagen, hab ihn [!]
manches diktiert, und muste nun manches Harte, aber durchaus
Gemässigte und Gefaste von mir mitnehmen — sol in die Papier31,1
mühle des komischen Anhangs unter den Holländer kommen. Von
jeher flogen meine Fühlfäden von diesem Platfisch zurük. Indes findet
er doch unter so vielen Feinden der Schlegl. viele Freunde; und weil
er ist wie alle Menschen, so ist er fast für alle. Sogar meine C. wurde 31,5
gebeten, mich zu bitten, gegen die S. zu schreiben. — Deinen Ekel an
dem schmierigen Niederschlag, der sich von den S. und von Fichte in
Bayreuth gesezt haben mag, hab’ ich in andern Städten empfunden. —
Meine Werke fodern die neue Zeit, so wie jene diese mit rufen
halfen. — Der Erbprinz von Meklenburg, mit dem ich meine schönsten 31,10
Stunden hier habe, hat auf der einen Seite seines Schreibtisches den
König, auf der andern Bonaparte. — Nirgends fand ich so viele
zugleich gute, häusliche, gebildete und schöne Weiber als hier. Mein
Sohn sol hier heirathen. — Von C. hab ich dir soviel wie nichts
gesagt. — Sie hat mich zu Weihnachten in einen netten Matin, eine31,15
gestikte seidne Weste, eine zweite alternierende Nachtweste und einen
Perlenring gestekt. —


Die Königin von England lieset mich jezt, da ihr ein englischer
Legazionsman mich zugesandt. — Den Rest mündlich! — Hier ist
alles theuer, besonders da man oft fahren mus — Bediente — Trank31,20
geld und jeder Fingerhut Luft. — Nun zu deinem Briefe! — (Apropos
behalte das Paquet Briefe so lange zurük bis bequeme Gelegenheit
da ist, sende mir nur deinen) Von Wernlein hab ich von jeher klein
gedacht, kont’ euchs aber nie sagen; jezt wird der Kleine gar ein
Kleinlicher. Die arme F[riederike]! Mit aller Liebe nehm ich sie an 31,25
mein Herz. — Dein Spiegelreiner Brief hat mir alle alte schönen
Gegenden deines Innern wiedergestrahlt. Nur quäält mich dein enger
Sorgestuhl. Ahlefeldt sagt, du köntest — fals dir die neue Agenten-
schaft nicht gefiele — durch Examen und durch Berufen auf deine
Arbeiten, die dir als dem Amanuensis deines Bruders erlaubt seien, 31,30
sogleich über alle lange Wege schwingen. Mit 10 000 Freuden würd
ich an den Hardenberg für dich — da man so leicht Ausnahmen in
diesem Staat begünstigt — machen und es gienge; sage mir nur den
Fal. — Amönens Verdienste um dich — Kinder der deinigen — haben
mir sie recht nahe gebracht.31,35

d. 26. Dec. Lesen und Schreiben wird mir jezt verkürzt; das von32,1
Briefen so, daß ich nichts versende. — Manches aus der Corday würd
ich wie du streichen; den ganz neuen Titan trift dein Tadel nicht, aber
vielleicht ein anderer. — Sage mir, welchen historischen Gegenstand
ich bearbeiten kan? — Kosmeli, mein gedrukter Antagonist — ein 32,5
herlicher derber Sünden-Naturalist und Gigant — wurde hier durch
meinen leichten lustigen Antagonismus und endlich spätern ernsten mein
gehorsamer Freund und schied weinend und wil aus Paris an mich
schreiben. Nur Kraft her! und der Teufel wird geholt, stat zu holen! —
Liebmans Kredit-Lüge ist wie die im R[eichs] Anzeiger eine. — 32,10

Deine Genügsamkeit rührt mich wie alles wozu du dich gebildet hast
oder bilden lassen. Ich selber mus durchfahren und nach nichts fragen
und mich an den Menschen nicht begnügen. Ich war auch einmal wie
du, aus Philosophie und Lage. Der Unterschied ist klein, sobald nur
die siegende Kraft sich aufbehält und der innere blaue Himmel, das32,15
Herzens Klima so wenig einbüsset als der unter der Linie bei den täg
lichen Orkanen. — Lebe wohl, mein Geliebtester! Bei Gott, unter allen
meinen Freuden denk’ ich mir keine schönere für mich als die daß du
so recht recht froh für dich in deiner stillen Weise hinleben köntest. —
Gute Nacht, liebe Amöne, sei froh und lebe wohl mit ihm. Der be- 32,20
lohnende Genius führ euch in das neue Jahrhundert ein!


Mein Herzens Emanuel mus ganz besonders gegrüsset werden und
mit dem Wunsche des heitersten Jahrhunderts.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Berlin, 10. Dezember 1800 bis 26. Dezember 1800. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_48


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 51. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 8 S. 4°. K: Otto d. 30 [!] Dec. J 1: Otto 3,385×. J 2: Nerrlich Nr. 82×. B: IV. Abt., IV, Nr. 46. A: IV. Abt., IV, Nr. 78. 28,25 kantisch-] nachtr. H 27 4] aus 3 H 28 bei der Mutter lebende] nachtr. H 29 mit] aus zu H 33 mein] aus der H 29,3 den] aus der H 4 Gleichen] aus Gleichheit H 5 artistischen] aus griechischen H 7 Offenheit] nachtr. H 8 ihr] in ihr K Eine] aus eine H 9 hat] davor gestr. wird H 16 heisser] nachtr. H, glühender K 17 unbeschädigt] unversehrt K da bis 18 hat] nachtr. H 23 erotische] nachtr. H 24 allen] nachtr. H 26 Anzug] davor gestr. Schmuk H 32 kalt gegen einander K 35 keinen] davor gestr. durchaus H 30,4 2 mal] nachtr. H 22 an das] aus ans H 24 empfindsame] nachtr. H 27 mich] nachtr. H 29 hier] nachtr. H 30 zerlumpte] aus zerrissene H 31 erbärmlichsten] nachtr. H 33 Clique] aus clique H 31,4 viele] aus leicht H 5 fast] nachtr. H 9 jene] davor gestr. diese durch H 13 zugleich] nachtr. H 15 Sie bis 17 gestekt. –] nachtr. H 18 da ihr ein] aus durch einen H 22 behalte] davor gestr. seze auf den Pa H 27 wiedergestralt K 30 die dir als] aus wenn du dich für H 34 um dich] nachtr. H Kinder] davor gestr. eine blosse H 32,3 den ganz] aus im H 9 her] nachtr. H 18 für mich] nachtr. H

Angekommen 6. Jan. 1801, mit einem (nicht erhaltenen) Brief von Karoline Mayer an Otto. 28, 32 Kiesewetter: s. 10, 36†. 29, 3 Karoline Herold und Karoline v. Feuchtersleben. 20f. Vgl. Bd. III, 347,24. 30, 4 Karl Aug. v. Struensee (1735—1804), preuß. Handelsminister, älterer Bruder des dänischen Ministers. 5 Friedr. Leop. Reichsfreiherr v. Schroetter (1743—1815), Finanzminister. Die Hardenberg: Plural? Hardenberg war damals mit Sophie, gesch. v. Lenthe, geb. v. Heßberg verheiratet. 21 Ehefrau: Clausius, s. Bd. III, Nr. 481†. 27 Otto hatte gemeint, die Schlegelsche Rotte müsse mit ihren eignen Waffen geschlagen werden. 28 Otto hatte im Auftrag Seebecks gefragt, über was Fichte Sonntagsvorlesungen halte (s. Bd. III, Nr. 512, 369,31†). 29 Hans Christian Genelli (1763—1823), Architekt, Onkel des Malers Bonaventura Genelli. 32ff. Sander schreibt am 2. Dez. 1800 an Böttiger (H: Dresden): „Endlich hat sich unser ami susceptible [ Merkel] entfallen lassen, daß sein zweiter Ausfall gegen Richter [im 10. seiner Briefe an ein Frauenzimmer über Jean Pauls Corday-Aufsatz] aus Animosität, nicht aus Liebe zur Litteratur herrührt. Er hat erfahren, daß Richter mit Bernhardi umgeht, und daß er diesen gefragt hat: kommt denn Ihr Aufsatz gegen Merkel noch nicht bald? Hinc illae lacrimae.“ Vgl. I. Abt., VIII, 410. 31, 9f. Vgl. I. Abt., XI, 378,31ff. 18 Königin von England: Charlotte Sophie (1744—1818), geb. Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz, Gemahlin Georgs III., Tante der Königin Luise. 23–26 Die Stelle in B über Wernlein und seine Frau ist nur in Amönes Abschrift vorhanden und offenbar abgeändert; vgl. Nr. 108†. 32, 2–5 Otto hatte die subjektiven Unterbrechungen in dem Corday-Aufsatz getadelt und gewünscht, Jean Paul möge mehr solche Schilderungen hoher Menschen geben; vgl. 43, 4f. 5–9 Vgl. 11, 3†; über Kosmelis früheren Bayreuther Aufenthalt hatte Otto durch Seebeck Ungünstiges erfahren. 10 Die Stelle über Liebmann fehlt in B. Im Reichsanzeiger v. 29. Okt. 1800, Nr. 251, hatte gestanden, Jacobi werde mit Herder und Jean Paul zusammen Hamanns Schriften herausgeben; s. 45 , 9–16 .