Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 21. April 1785.
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krank, sondern gar tod ist!
Inzwischen thut das gar nichts: denn wie alle Todten besuchst du
mich im Schlafe und wir haben gestern zu Nachts uns doch wieder
einmal ganz sat gesprochen. Ich gieng ausnehmend vergnügt
über das 160,35
pythagorische
[!] Stilschweigen, das du zu beobachten
anfängst und
161,1
das sowol die Weisen als die Mönche so sehr empfehlen, zu
Bette.
Dieses Vergnügen mus sich nun in den Traum verwandelt
haben, den
ich hier iezt mittheile, um dich in einen ähnlichen
zu wiegen.
Mir träumte, du wärest zu mir gekommen. Anfangs hielt’ ich deine161,5
Erscheinung gar für einen Traum, bis mich endlich deine
Annäherung
überführte, daß du es wirklich selber seist. Meine
erste Frage war,
„hast du keinen Brief von dir, denn du hast
mir lange nicht ge
„schrieben; ich wolte
wetten, du bist dein eigner Briefträger geworden.“
Deine
Antwort war: „von mir hab’ ich keine Briefe an dich, aber 161,10
„hier ist der grosse Pak (du zogst ihn sofort aus der Tasche)
von
„Briefen, die andere an dich geschrieben. Da ist auch der
Don Quixotte,
„auf den ich dich nicht länger warten lassen wil. Ich schriebe
dir
„übrigens gern; aber ich habe soviel zu thun und ich mus
besonders
„soviel Zeit mit der Lesung deiner Briefe
verzetteln. Wenn du ihrer 161,15
„weniger an mich abliessest:
so hätte ich vielleicht mehr Zeit, auf sie
„zu antworten.
Indessen wird mein Kutscher stat der Briefe 24 lere
„Bögen
nachbringen, die deiner Feder den weitesten Spielraum an
„bieten und mit denen du meine Briefe ordentlich
durchschiessen kanst,
„um deine eignen Anmerkungen
einzutragen.“ — „Aber, sagte ich, 161,20
„so must du desto
öfter selber kommen.“ — „Eben das wolte ich dir iezt
„sagen;
ich habe mir vorgenommen, beinahe alle Abende zu dir zu
„reisen und du kanst dich darauf verlassen.“ — „Sonach kan ich mich,
„ohne Widerrede der Kunstrichter, ganz wol mit den Mönchen in
Ver
„gleichung stellen, die am Tage
fasten müssen, zu Nachts aber sich161,25
„gütlich thun. Und
nu, mit dem Pfarrer in Rehau seiner A. Deutsch.
„Bibliothek?“ — Gerade da ich das fragte, trat der Pfarrer
selber
hinein, an dem du anfangs nichts bewundertest als sein
vorgestossenes
Kin. Ihr sprachet lange mit einander; endlich
kamet ihr auf die
A. D. B. und ich erinnere mich noch wol, daß
der Pfarrer vom 161,30
Preise bis auf 50 fl. freiwillig heruntergieng und zugleich von 120rtl.
sprach, die ihm die 65 Bände gekostet hätten. Allein ich kan
mich mit aller
Anstrengung nicht mehr auf das besinnen, was du
ihm antwor[te]test;
ich bitte dich daher, es mir noch einmal zu schreiben und mir nicht aus,
sondern in den Traum hinein zu helfen.
— Wir giengen nun ausein161,35
ander und
ich fühlte es ungern, daß soviele Vergnügungen die Flüchtig
keit eines Traumes nachahmen. Zulezt versprachst du noch, mir
nächstens zu schreiben: und das hat mir freilich nicht gefallen: denn 162,1
wenn es nicht falsch ist (und es ist nur gar zu wahr), daß die
Träume
gerade das Gegentheil ihres Inhalts weissagen: so
prophezeiet dein
geträumtes Versprechen, mir zu schreiben, nur
gar zu deutlich, daß
du mir sobald keinen Brief schikken wirst.
162,5
Du wirst den Wiz meiner Erfindung sehr erheben. Auch dünkt mich
hast du nicht Unrecht. Überhaupt sezet der Traum unserm Geiste neue
Flügel an, auf die vielleicht die alten Künstler anspielten,
wenn sie den
Schlaf mit Flügeln gestalten. Daher ist es ein
fataler Fehler unserer
Poeten, daß sie so selten im Schlafe schreiben und noch in dem
all162,10
gemeinen Irthum stehen,
ihren Versen sei durch den Schlaf des
Lesers weit besser als
durch ihren eignen gerathen.
Diese Linie sol mein Scherz nicht überschreiten und ich bitte dich,
las deinen künftigen Brief einen Ablasbrief für die Schwachheits
sünden sein, die ich [mir] in meiner
Laune gegen die Freundschaft etwan 162,15
zu Schulden kommen
lassen.
Wenn ich und du mehr Ruhe erhalten: so wil ich dir etwas vor
schlagen, das mich und dich in eine häufige Korrespondenz
verwikkeln
wird. Eh’ ich dich auf lange verlasse: mus ich noch
für etwas sorgen,
das dich mich nicht so bald vergessen
lässet. 162,20
Lebe tausendmal wol und werde gesünder, wenn du es nicht bist und
erinnere dich zuweilen an deinen Freund.
Hof den 21 April 1785.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 21. April 1785. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_101
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 2½ S. 4°. J 1: Wahrheit 3,407. J 2: Nachlaß 2,314. 161,22 beinahe] nachtr. 23 reisen] aus kommen 33 auf das besinnen] aus erinnern 35 hinein] nachtr. 162,5 mir sobald keinen Brief schikken] aus gerade das Gegentheil thun 14 f. Schwachheitssünden] aus Sünden 18.20 daß 21 gesünder] aus besser
162 , 17–20 Der Vorschlag findet sich in Nr. 142. Richter wollte nach Leipzig zurückkehren, s. zu Nr. 98.