Von Jean Paul an Christoph Martin Wieland. Hof, 26. März 1786.
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Selten wird einer an dich sehr gut geschrieben haben, der nicht
vorher den Comes Natalis vor sich hingeleget; aus dem
schöpft man
205,10
den ganzen Brief an dich, der aus lauter Anspielungen
auf deine
mythologische Biographie gewebet sein mus. Da man
sich gewöhnlich
der Gunst dessen, mit dem man umgeht, dadurch
bemächtigt, daß man
seinen Sitten nachahmt: so haben die
grösten Autoren geglaubet, dich
durch eine ähnliche Nachahmung
bestechen zu können und hoften sich 205,15
die Liebe des
Gottes der Beredsamkeit zu erschmeicheln, wenn sie offen
bar beredt an ihn schrieben. Ich lasse das: denn du warst wol
fähig in
deiner Jugend vor vielen 100 Jahren und zum 2tenmal
in deinem
Alter vor einigen Jahren der Venus den kostbaren
Gürtel zu stehlen;
allein es scheint, daß ich nicht im Stande bin zu stehlen....
In der That 205,20
es ist äusserst schlim, daß du aufgehöret,
der Postbote aller Götter zu
sein und nur von Apollo und den
Musen noch Bestellungen annimst:
sonst zwäng’ ich dich sicher, diesen
[Aufsaz] in die Welt zu tragen. Da
man indessen sehr gut aus einer Allegorie in die andre kommen
kan: so
kan ich noch sagen, daß es dem, der die Seelen sowol
in die Hölle als 205,25
in diese Welt zu führen vermocht,
überlassen [bleibt], wohin er diesen
senden wil, ob mit der nächsten Post zu mir oder zum Publikum.
Ungemein selten komt ein Unglük allein; wenn du z. B. iezt
dich mit der
Bekantmachung dieses Aufsazes belädst, wird dir
nicht sofort sein
Verfasser die Aufnahme einer Satire über die
Damen, die ihre
205,30
Tugend besiegen lassen wollen — ohne Bedenken zumuthen?
Ich wolte
darauf wetten. — Ich habe noch eine Bitte an dich:
denn ich bin zu
arm; aber diese ist klein. Es wäre sonderbar,
wenn ich mich nennen
wolte etc.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christoph Martin Wieland. Hof, 26. März 1786. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_160
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K (nach Nr. 156): An Wieland den 26. März 1786. i 1: Berliner Conversationsblatt, 11. Januar 1827, Nr. 8. i 2: Wahrheit 4,65.
Vgl. Nr. 169. Der eingesandte Aufsatz, „Wahnsinnige Sprünge, wodurch ich den Leser und mich einzuschläfern trachte“ (II. Abt., II, 401—407), der später ganz umgearbeitet u. d. T. „Springbrief eines Nachtwandlers“ im Morgenblatt erschien, bildete ursprünglich einen Bestandteil der „Scherze in Quart“, ebenso die in Aussicht gestellte Satire „Lob auf eine Dame, die allzeit in Ohnmacht zu sinken schien, wenn sie ihre Tugend unterliegen ließ“, die dann im 29. Sektor der Unsichtbaren Loge Verwendung fand (I. Abt., II, 244—246). 205, 10 Comes Natalis, „Mythologiae, sive explicationes fabulorum“, Venedig 1551 und Frankfurt 1581; Exzerpte daraus im 8. Band von 1785. 19 Vielleicht Anspielung auf den 1780 im Teutschen Merkur erschienenen „Oberon“; vgl. Jean Pauls Brief an Wieland vom 18. Juni 1796.