Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 27. April 1790 bis 28. April 1790.
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Endlich kömt Ihr Brief noch vor dem Kometen. So wilkommen dieser den Astronomen sein wird, so lieb war mir iener. Ich bin so schnel mit meiner Antwort da 1) weil iezt Ihr Brief noch frisch in Ihrem Gedächtnis und 2) noch frisch in meiner Empfindung ist. Man solte ieden Brief in dem Feuer beantworten, in das uns seine erste Lesung sezt. Es kömt überhaupt ieder Zustand der Seele nur 1 mal und ie lebhafter er war, desto unvolkommer wiederholt er sich; man kan nur 1 mal über den nämlichen Gegenstand Wiz etc. in Einem Fokus samlen; die übrigen male liegt der Gegenstand immer ienseits oder diesseits des Fokalabstands... Sie müssen mir erlauben, daß ich mir alles erlauben darf, besonders Unordnung; und meine Feder dekliniert beständig, zumal so nahe am Pol, und was ist die Geschichte des ganzen Lebens selbst anders als ein transzendentes Deklinatorium? — Eh’ ich der Hauptsache zu irre: nur noch ein paar nebensächliche Worte. Sie halten Leibniz für einen Aequilibristen, ich für einen Deterministen — Sie seiner Wahl des Besten wegen, ich eben deswegen. Einem solchen gigantischen Kopf und polyphemischen Auge konte unmöglich verdecket bleiben, daß das einzig wählbare [der] Dinge, das Beste, iede andre Wahl verbiete, und es ist einerlei, an welchen Ketten ich geschleppet werde, an kosmologischen oder psychologischen. Aber Leibniz wolt’ es nur andern Köpfen und Augen verdekt halten. Dazu kömt, daß er — der nicht den Zirkel sondern die Transsubstanziazion zu quadrieren wuste — auch alles Mögliche zu quadrieren und zu beweisen verstand und zwar mit Überzeugung: an allen Systemen fand er die wahre Seite so leicht als die falsche... es solte ein Buch geben, worin das Wahre stände, das alle Systeme haben; kein falsches System gab es nie, solange Welt und Systeme stehen. — Da Sie meine Harmonie verlegt haben wie die Welt die leibnizsche: so werden Sie einen solchen Jammer leichter tragen, wenn Sie den Seneka oder Boethius lesen; ich hab’ es auch gethan und bin wieder ruhiger, da zumal so ein Blat sich so leicht wie ein Bandwurm ergänzt.
Ich habe nichts gegen aber wol 100 Dinge über Ihre so schönen Gedanken von der Autogonie zu sagen... es giebt Dinge, die man nicht malen kan, ohne sie zu haben... Sie sehen Wieland durch seinen litterarischen Dunstkreis, der soviel Flecken, Höfe und blasse Nebensonnen um ihn bildet, hindurch in seiner nakten Sonnengrösse. Veränderliche Menschen werden am leichtesten verkant und am ersten für falsch verschrieen; daher wurden seine Lobredner so oft an ihm irre und es hättens doch blos seine Tadler werden sollen... Bildung ist wie das frühere Erziehen nicht Vergrössern irgend einer Seelenkraft sondern Lenken derselben. Ich mag es nicht Entwiklung nennen. 100 mal thut man [ihr] die Ehre, ihr eine Entwiklung der Kräfte anzurechnen, die blos das Werk des Wachsens an Leib und Seele ist. Es ist geradeso als [wenn] man der Kindermagd und ihrem Brei und ihrem Laufband das Wachsen und Gehen des Kindes beimässe: beides wäre ia doch ohne die Kindermagd, nur aber später gekommen (ich wikle mich aus einer Untersuchung in die andre). An ganz dummen, bösen Kindern zerschellet alle Erziehung und an ganz geniemässigen auch (wiewol man sie gerade als entgegengesezte Beispiele vorführt, weil man das Werk ihres Genies zum Werk des Genies des Lehrers macht), am Mittelschlag weniger. Das Meiste und Beste, was die gute Erziehung kan, ist, die schlimme auszulöschen und sie schnellet nicht das Kind über den Weg seiner Entwiklung hin sondern wirft nur die aufhaltenden Steine aus dem Weg. Was thut am Ende die Erziehung? zum Scheine viel, weil der Eleve Sprachen etc. kan, und der Bauerjunge nicht; aber diese Verschiedenheit der Gegenstände, woran beide ihre Kräfte schleifen, giebt nicht verhältnismässige Verschiedenheit der Ausbildung. Der Bauer hat am Donnerstag seine Rechenstunde; am Sontag Nachmittags seine Übungen in Wiz und Laune etc. Wir glauben immer, nur Lehren bilde aus, stat Thun, da doch ein Kar touche, der die feinsten diebischen Kriegsoperazionen entwirft, ein grösseres Feuer unter seiner Phantasie anmacht als der Komödienschreiber, der sich zur Erfindung der nämlichen Entwürfe für seine Rollen anstrengt — Ich weis nicht mehr, unter welchem Grade von Breite oder gar Länge meiner Materie ich herumschiffe, soweit verschlag’ ich mich — Soviel seh’ ich (so wenig seh’ ich in der ganzen Sache hel und ich wil Ihr Auge als Lorgnette) daß wenn ich die Wirkung einer schlimmen Erziehung glaube, [ich] auch die einer guten einräume, daß wenn ieder Mensch den Geruch des Jahrhunderts und Volks annimt, in dem er lebt, auch der einzelne Erzieher an ihm müsse formen können; aber das Jahrhundert und das Volk brütet ihn fortwährend und lebendig und handelnd an, der Erzieher hingegen wirkt nur wenige Jahre — rukweise und redend. Aus der Mühsamkeit, mit der man sich selbst zu etwas besserem ausmünzt, lässet sich die noch grössere schliessen, mit der ein anderer es an uns thue: denn können meine eignen Vorstellungen, deren Dasein doch schon einen für sie günstigen Boden voraussezt und die am lebhaftesten und unausgesezt auf mich wirken, gleichwol mich nur so langsam umformen: wie wenig müssen es erst fremde vermögen, denen diese Vortheile sämtlich fehlen! — Unsre Erziehungen taugen nur zur Beschleunigung der Ausbildung, nicht zur Ausbildung selbst. — Vollends Menschen höherer Gattung behalten in ihren Gehirnen so wenig Eindrücke von der Schulbank, worauf sie sassen, als das der Schulbank nächste Glied. Nur der stärkere, höchstens gleiche Geist wirkt und bildet am andern Geist mit Erfolg. Doch wird die Nachahmerkohorte nie einen originalen Styl erhalten, sie mag lesen was sie wil, und nicht Göthe sondern ihre Schwäche ist schuld, so wie er seinen nie verlieren wird, er mag lesen was [er] wil. Ohne diese athletische Unbiegsamkeit einiger knöchernen Seelen wäre ia die Vorsehung nie im Stand, ganzen Jahrhunderten und Völkern andre Stösse zu geben und sie aus ihrer Bahn zu biegen. — Vielleicht ist am Herzen der Boden und seine Früchte zu unterscheiden, 2 Dinge, die oft von ganz entgegen[geseztem] Werth sind. Über iedes Menschen Triebe herscht ein höheres sie alle tingierendes Prinzip, das allein seinen Werth bestimt. Ohne dieses edle Prinzip wird ein Mensch, er sei so tugendhast als er wolle und kan, nie edel sein — 100 mal hat er wie Thiere Tugenden ohne edel und Laster ohne unedel zu sein. Man könte das Wesen dieses Prinzips in Losreissung vom Irdischen sezen oder Anpichung an dasselbe … solche Menschen, die alles auf der Erde für Mittel, nicht für Zwek ansehen, die wie Shakesp[eare] und die meisten Engländer das Gefühl der Eitelkeit aller Dinge in ihrem Busen tragen, die, von der hiesigen irdischen Bestrebung nicht mitfortgerissen, von unsern Menschenfreuden und Leiden unbetäubt, geniessen, leiden und thun nur mit dem besonnenen Blik entweder nach einer andern Welt oder nach dem Grabe — können nur von der Natur gebildet und vom Schiksal nie gemisbildet werden. — Diese Denkungsart wird weder von der Philosophie noch Religion noch Poesie verliehen aber wol gestärkt; und durch Geselschaften, Arbeiten, Aemter — entnervt. — Was ist der Grund dieser Empfindungen? Hätten Sie diese Frage nicht an mich gethan: so thät’ ich sie an Sie. Ich dachte sonst, diese feineren Empfindungen stammen von einer lebhaften Phantasie ab, weil mit der Lebhaftigkeit des dargestelten Gegenstandes auch die seines Eindruks wachsen mus. Auch beweiset die Erfahrung die Union der feineren Empfindungen mit der lebhaften Phantasie. Aber wenn ich wieder von der lezteren den Grund aufsuchte, den man mit noch mehr Recht in stärkere Empfindungen sezt, deren Wiederholung die Phantasie ist und von deren Stärke also die leztere kömt: so fiel mir erst ein, daß welchen Grund ich auch fände, doch dieser einen neuen zur Erklärung fodern würde und daß die Antwort eine Frage gebährte — Die Einkleidung dieser Gedanken gleicht dem Anzug, in dem die Leute bei einer Feuersbrunst herumirren. Antworten Sie mir so schnel wie der König in Preussen seinen Unterthanen.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 27. April 1790 bis 28. April 1790. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_319
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: An Wernlein 27 Ap. 90. i: Wahrheit 4,320×. B: IV. Abt., I, Nr. 111. A: IV. Abt., I, Nr. 113. 290,12 Fokalsabstands 29 kein] vielleicht verb. in ein
290,7 f. Vgl. 78, 17f. 17ff. Wernlein hatte den ersten Satz von Richters Aufsatz über die vorherbestimmte Harmonie (s. zu Nr. 314): „Der Gegner des Äquilibristen kann sie nicht widerlegen, sondern bloß der Äquilibrist“ für paradox erklärt, da doch „der erklärteste Äquilibrist der Erfinder der vorherbestimmten Harmonie war“. 24f. Vgl. Leibniz’ Schrift „De Transsubstantiatione“ (Akademie-Ausgabe VI, 1, Darmstadt 1930, S. 508—513). 30 Wernlein hatte geschrieben, er habe Richters Aufsatz verlegt und bisher vergeblich gesucht; er fand ihn dann bald wieder. 32 Boëthius verfaßte im Kerker das berühmte Werk „De consolatione philosophiae“. 37ff. Autogonie: Wernlein hatte Richters „Behauptung von der Selbstbildung der bessern Menschen“ (in Nr. 314) beigepflichtet und u. a. geschrieben: „Der bessere Mensch, der der Selbstbildung fähig seyn soll, muß … Agathon oder Verfaßer desselben seyn!“ 291, 6ff. Diese skeptische Ansicht über die Wirkung der Erziehung hat Jean Paul später im 2. Kapitel der Levana näher ausgeführt (I. Abt., XII, 86ff.). 25 Donnerstag war der Hofer Markttag. 27f. Louis Dominique Cartouche (1693—1721), Anführer einer Pariser Gaunerbande; vgl. II. Abt., II, 162, 15—18 .