Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 5. Juli 1790.
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Ich wolte die Antwort anfangen, als meine Nachfahrer nachgerolt
kamen. Glauben Sie aber nicht, daß ein armer Novizenmeister wie
ich darauf närrisch stolz ist, daß in seine Stube ein
Tagschmetterling,
ein Dämmerungsvogel und der Naturforscher von beiden
flatterten —
296,15
denn ich weis aus Geschichte und Nachdenken, wie kurz
und klein ieder
Ruhm, selbst der gröste ist und wie, indem das
Ganze der Vergangen
heit im Gedächtnis der
Nachwelt immer aufschwilt, die Theile derselben
immer mehr
eindorren: solche Betrachtungen hindern einen, sich über
andre
Menschen und Hofmeister zu erheben, wenn ihn die Höfer
296,20
besuchen. — Ein vergnügter Weg, nicht blos wegen
dessen, was ich
erwartete, sondern schon in Händen hatte. Ich
wolte, Asia, Afrika etc.,
Südindien (des unentdekten Nordindiens nicht zu erwähnen)
schriebe
an mich und zwar so etc. — so gefrässig bin ich im Brieflesen.
Ich hätte
Ihnen nach Ihrem langen Verweilen im Mondsschatten
Ihrer 296,25
Studierstube nicht so eilig geantwortet, köderte
mich nicht Ihr Ver
sprechen künftiger
Polygraphie an.... Ich eile nach einem Sprunge
über Ihren
humoristischen Anfang.. Was Sie vom Gefühl sagen,
ist so
richtig, daß ich ohne dies mich selbst nicht erwehren könte, ein
Wolfianer etc. zu sein — wogegen ich in meinem Morgen-, Vesper-
und
296,30
Nachtsegen nicht genug beten kan. Sobald aber von
Demonstrazion
(dem Dissenter vom Gefühl) die Rede ist: so wird
die Schwierigkeit
der gleichzeitigen Aufziehung der beiden ähnlichen Reihen
sicher
kleiner a) durch den Zufal,
den auch der Influxist eingestehen mus, da
er ihm doch die
gleichzeitige Aufziehung ziemlich zusammentönender 296,35
Vorstellungsreihen verdanken mus, b) dadurch daß der
Harmonist nur
diese Gleichzeitigkeit zu läugnen braucht: denn woher stände
sie zu er297,1
weisen, da keine Seele etwas von
der andern etc. weis? … Leibniz, Lessing
meisselten aus den feindseligsten Systemen ihre überdekten
Aehnlich
keiten mit einander heraus —
Bayle, Voltaire und die Kezer fabri-
zierenden Theologen holten aus Systemen die
Verschiedenheiten und297,5
Irthümer hervor — .. Der Stoizismus
— Monachismus — Mysti-
zismus und Fohismus sind Milchbrüder. Der
Stoizismus fodert nicht
blos Apathie sondern schränkt die
Tugend auf thatenleere Verfassung
ein (denn wie solte der
Stoiker einem angenehme Empfindungen zu
zuführen bemüht oder verpflichtet sein, da diese nicht viel besser als die 297,10
entgegengesezten sind). — Der Monachismus untersagt ieden eignen
Willen etc.
— Der Mystizismus (Brüder des freien Geists im 13 Jahr-
hundert) verwandelt alle Neigungen etc.
der Seele in den einzigen
Gedanken an Got und begehrt einen
frommen Grund mit Gleichgültig
keit für die
darauf gemalten guten oder schlimmen Handlungen. — 297,15
Der
Fohismus in Sina, aus dem das warme schlafsüchtige Klima noch
ein Paar Sprossen mehr vortrieb, sagt, daß man Geistes
Anstrengung
und Sinnen Abtödtung solange fortsezen müste, bis
Wille und Gedanke
und Empfindung verschwände etc. Der Christ
und der Tugenhafte sind
in einem gewissen Grade Stoiker, folglich würde in ienem Buch,
dessen
297,20
Schreibung und Unterschreibung Ihnen so schwierig
vorkömt, ieder
seine Meinung finden. — Überhaupt ist ein
Mensch von einem Men
schen wenig verschieden und ich habe Hochachtung für ieden Unsin,
weil er von und in einem Menschen ist und weil ieder Unsin bei
näherer
Umleuchtung Gründe verräth, die seine Annahme
entschuldigen. 297,25
Vollends über Gewohnheiten ganzer Völker
und Zeiten solte man nie
den Stab richtend brechen, da es
keine ganz sinlose gab (das nüzlichste
Buch wäre eines, das
die Vernunftmässigkeit alles menschlichen Unsins
darstelte). —
Ich flattere glüklich in einem Blumenflor von Genüssen
herum,
die meinem Saugerüssel untermengt anbieten Satiriker etc.,297,30
Koketten und alle Teufel. Hätt’ ich Zeit und Kopf genug: so
lernt’ ich
alle Wissenschaften und Sprachen, weil iede eine
neue Seite der
menschlichen Natur und einen neuen Genus
verspricht. Jede mensch
liche Freude, iede
Volt[airische?] ist eine wahre und ihre
Entbehrung,
298,1
weil die Intension die Extension nicht ersezt, aber wol mehrt
diese iene.
Mich schreib’ ich vergnügt und Sie misvergnügt. Ich
trüge meine
augspurgische Konfession unter meiner Gehirnschale
herum, fänd’ ich
nicht Menschen, vor welchen sie abzulegen es Reiz und Nuzen
hätte. 298,5
— für die künftige Lebenswärme des gequälten
Herzens — Der erste
Entwurf fuhr mir mit Grausen vor der Seele vorbei und bebend
schrieb
ichs nieder.... Ich wolte, es zöge eine
Rezensentenseele in Sie etc. und
[daß Sie] durch ihre Kritik mein Geschreibe
ausbrenten.... wenn Sie
meiner lapländischen Wahrsagertrommel
glauben wollen: so ist das
298,10
Wetter morgen ein Sontagskind und ein azurner Tag, der
nicht wie
die iezige Mode einen Halbmond sondern eine ganze
Sonne aufhat
und der sich bisher mit Schönheitswasser rein
gewaschen, wird uns
nach Gatt[endorf]
führen, zur alten Bestie. — Ich gebe kein Mora-
torium von 5 Monaten mehr und mus ich Ihr
Siegel zerbrechen — 298,15
Geben Sie mir nicht eine
Schreibstunde sondern eine Schreib
minute.
Leben Sie wol und besser als Sie verdienen: denn da Sie gut
sind, [verdienen] Sie, daß es Ihnen recht
übel und exzentrisch gehe:
denn das ist der Humor unsres
Erdbals so.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 5. Juli 1790. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_327
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: Den 5 [ aus 3] Jul. Wernlein. i: Wahrheit 4,321×. B: IV. Abt., I, Nr. 113. A: IV. Abt., I, Nr. 115.
Daß Richter seine Besucherinnen als Nachfahrer bezeichnet, erklärt sich vielleicht daraus, daß er vorher noch selber in Hof gewesen war. Mit dem Tagesschmetterling und dem Dämmerungsvogel sind wohl die beiden Töchter oder Mutter und Tochter gemeint, mit dem Naturforscher Chr. Otto. 296, 28ff. Wernlein hatte gegen die Behauptung in Richters Harmonie-Aufsatz, die gleichzeitige Aufziehung der (körperlichen) Bewegungs- und der (geistigen) Vorstellungsreihe werde durch das System des Influxus so wenig erklärt wie durch das der vorherbestimmten Harmonie, eingewandt, daß in diesem Punkte sein Gefühl durch das erstere doch mehr befriedigt werde. Richters hier geäußerte Wertschätzung des Gefühls zeugt von dem Einfluß der Jacobischen Philosophie (vgl. zu Nr. 247). 297, 2—29 Wernlein hatte um nähere Erläuterung der Idee eines Buches mit den Wahrheiten aller Systeme (290, 28—30) gebeten. 298, 1 Nach „Entbehrung“ ist vielleicht etwas ausgefallen. 6f. Der erste Entwurf: zu dem mitfolgenden Aufsatz „Des todten Shakespear’s Klage …, daß kein Gott sei“ (II. Abt., III, 163—166), der späteren „Rede des toten Christus“. Nach A scheint Richter hier noch bemerkt zu haben, daß auch der Atheist die Unsterblichkeit der Seele zugestehen könne; vgl. I. Abt., VI, 248,13f. 14 Gattendorf: Dorf und Schloß eine Stunde östlich von Hof, damals einem Freiherrn von Reitzenstein gehörig; vgl. 334, 13, II. Abt., III, 244,22. 15 Vor „mus“ ist vielleicht eine Zeitangabe zu ergänzen.