Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 6. November 1790.
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Du wirst dich meines neulichen Urtheils über dieses Buch er-
innern; iezt ändere ichs ein wenig. Das
Buch enthält im ersten Bande
eine Enzyklopädie aller
Wissenschaften, im zweiten die Naturwissen
schaft. Blos die leztere ist des grossen Genius unsers Freundes werth,
ungeachtet sie kein volständiges System sondern nur
Anmerkungen 311,1
über eine Tabelle darüber verspricht und giebt.
Hingegen der erste
Band ist nicht sowol eine Enzyklopädie als
eine Methodologie und
Nomenklatur der Wissenschaften, in der
nur selten eine Hermannische
Bemerkung glänzt. Die übrigen
Fötusse, Embryonen und molecules 311,5
organiques auf Konzeptpapier sind fast alle wie er selbst verlassene
und verwaiste Genies und von grösserem Werthe als die
volendeten.
Denn seine Ausarbeitung erschwert durch 3 erlei
ausserordentlich das
Lesen und Verstehen: 1) durch Perioden von
2, 2½ Seiten (wie in der
Naturwissenschaft) 2) durch unnöthige
sich selbst ersezende Bestim311,10
mungen, welcher Fehler Kant
mehr unverständlich macht als sein
Tiefsin selbst (es ist als besiehst du eine Landschaft durch
ein Mikroskop)
3) durch eine sonderbare Bescheidenheit und
Verstektheit, womit er
gerade seine besten Ideen mehr mit
Winken als Worten andeutet. Jezt
kömt es darauf an, ob dein
Lesen dieses Urtheil und hernach meinen 311,15
neulichen Rath
bestätigt, anfangs nur die besten Stücke überal, selbst
aus
der Naturwissenschaft (z. B. Seit. 652 etc. etc. eine meisterhafte
physiologische Darstellung des menschlichen Körpers darin)
heraus
zugeben und dan erst die
Naturwissenschaft darauf zu geben. Dazu
kömt noch, daß viele
Ideen, die er erfand, weil er wenig las oder alles311,20
mit
seiner Ideenmasse auflösete und amalgamierte, schon vorher
erfunden waren. So warf ihm ein Rezensent seinen Saz von den
groben Theilen der Luft, des Äthers als ein Plagiat vor. So schrieb
er mir selbst, daß er eine Theorie über die Schwere
unterdrükte, weil
er sie bei einem andern nachher gefunden.
Wenn wir das thun: so 311,25
gehen wir den Umständen aus dem
Weg, die seinen lezten Werken das
Schiksal seiner gedrukten
zuziehen könten; und wenn einmal der
Werth dieses grossen Geistes öffentlich gefühlt und gestanden
ist, so
daß es die Höfer etc. Spizbuben vernehmen: so haben
wir beide nur
den halben Schmerz über sein Hinfallen. 311,30
Aber eile ein wenig, weil ich im einen Falle viele Arbeit, bei so
knapper Musse hätte.
Ich vergas unter meinen obigen Gründen noch, daß sein Werth und
Geist nicht in seinen Wendungen liege und daß die, in denen er ist, ia
nur behalten werden dürfen. 311,35
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 6. November 1790. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_346
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 2 S. 4°. K: Otto 6 Nov. 90. J: Otto 1,9. 311,26 dem] den H 29 vernehmen] hören K
Es handelt sich um ein hinterlassenes Werk Hermanns, vgl. Nr. 304†. Tagebuch, 26. Okt. 1790: „Meine Lektüre in Hermans Schriften.“ 311, 27 Hermann hatte unter dem anagrammatischen Pseudonym N. H. Marne zwei Schriften veröffentlicht, „Über die Anzahl der Elemente“ (1786) und „Über Feuer, Licht und Wärme“ (1787), die beide ohne Erfolg blieben. 36 Die Beilage ist nicht erhalten.