Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 26. Januar 1791.
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Das Aergerlichste ist, daß wenn ich mit dir über etwas Schriftliches
recht weitläuftig schriftlich reden wil — ich dir schon alles
mündlich ge320,30
sagt habe — auf der
Chaussée hätt’ ich mir etwas anders fürs Papier
aufsparen sollen als Wiederholungen.
I. Wegen deiner Klage über Trockenheit des Sujets. Alle
Trockenheit ist so subjektiv, daß nur die Dinge eine bei sich
führen, die
man nicht treiben mag — dem Heraldiker ist
Wieland, dem Philosoph
320,35
der Dichter trocken. Vor 10 Jahren kreuzigte ich mich vor dem
321,1
Rechte, besonders dem
LehnR[echte]; iezt siz’ ich mit Wollust
darüber.
II. Wegen deiner Klage über die Einkleidung. Wenn du diesem
Theorem eine geben woltest: so köntest du es, nach deiner
„Danziger“
Probe, von einem algemeinen Saz eine individuelle Anwendung zu
321,5
machen. Nehm’ eine wahre Linie, die eine Erbschaft
erstreiten wil
und defendiere stat der Wahrheit den adelichen
Stam: so könte man
sogar Feudal-Leserinnen um sich sammeln, auf
eine so leichte und so
närrische Art wird das Interesse der
Menschen gewonnen und ver
scherzt. Sogar in
Schriften mus man wie in Geselschaften von Perso321,10
nen stat von Sachen reden und diese in iene verkörpern.
„Weibliche
Müzen sizen schlecht.“ Das ist der algemeine Saz
und wenn du ihn
einem Mädgen vorträgst: so hat es ihn vor dem
Sontage vergessen.
Sagst du aber: „im Schreibspiel besprizten
verschiedne Federn dasige
„weibliche Müzen und schwärzten sie
an“: so bleibts. Die unnöthige 321,15
Erläuterung meines Raths
ist wie ich sehe auch eine Ausführung
desselben.
III. Wegen der Stellung der Beweise. Es giebt zweierlei
Stel
lungen — die deutsche, langweilige,
logische, analytische Stellung —
und zweitens die französische, interessante und synthetische.
Bei iener
321,20
fängst du wie ein Kompendium an und schickest mit
algemeinen, be
kanten, zugestandnen Säzen
soviel Eckel voraus, daß der Leser nicht
weiter mit dir geht.
Die zweite (die Voltairische, Mösersche, Addi-
sonsche) umstrikt und fässet den Leser
sogleich mit einem wichtigen,
partikularen Saz und zieht und
schleift ihn an diesem Interesse zu den321,25
minder
interessanten Beweisen. Bleibe also bei deiner, wo du sogleich
dadurch, daß du den Leser ins Gesez wirfst und in die Hauptsache,
Interesse gewinst, das du einbüssetest, wenn die Dedukzion aus
dem
primo adquirente vorstände. Der noch wichtigere Grund ist
aber der,
daß die Dedukzion p. 20
etc. das Gesez II. F. 50 und die bessere Inter321,30
pretazion des Gesezes II. F. 37 rechtfertigt und wahrscheinlich macht
und
also besser zulezt steht. Da am Ende alles auf Geseze und nichts
auf algemeine Schlüsse ankömt: so sind diese nur das Anhängsel von
ienen und können iene nur erläutern, nie ersezen. Nicht die
Vernunft
mässigkeit sondern das Dasein
des Gesezes habt ihr zu erweisen. 321,35
Uebrigens dünkt mich, hättest du dir einige Mühe 〈Worte〉 erspart,
wenn du F. 50 zum Grunde geleget und
F. 37 als einen Einwand be
handelt hättest, weil es nichts klärers giebt als ienes und nichts 322,1
unbestimters als dieses, so daß wenn F. 50 gar nicht
geschrieben
stände, F. 37 doch zum
Vortheil der Lineal-Erbfolge, aus der Lehens
Renunziazion p. 20 etc. erkläret werden müste. Euere Exegeten über
das Wort legibus haben also den
theologischen Exegeten nichts vor322,5
zurücken als Aehnlichkeit.
Am Ende beruht, wenn nicht augenblikliche Überwältigung der
Endzwek ist, auf der Schlachtordnung der Beweise wenig, weil sie doch
der Leser rükt und mischt wie er wil.
Mach’ häufigere Absäze, sie erleichtern unendlich. Deine Klage 322,10
über Dunkelheit ist eine hysterische, deren du mehrere hast.
Glaube mir,
sobald die Sachen in deinem Kopfe umschienen und
auseinandergerükt
dastehen: so treten sie auch so aufs Papier,
wenn man sie nicht mit
Farben überklebt und verpicht. Wenn du
vollends einem solchen
Feudisten und Genealogisten wie mir
deutlich wirst! — Du kanst322,15
also eher die 4 lezten
Blätter, für andre etwas einziehen.
Ich hätte dir, ohne meine Abrufungen nach Hof, deine Arbeit
schon vor 10 Tagen wiedergeben können; denn ich möchte nicht
gern,
daß ich nicht so schnel im Lesen und Schreiben wäre wie
du, wiewol du
doch das von Betlern bis auf diese Stunde noch
hast und dir bei einem
322,20
so kleinen Blatte nicht gleich bleibest, da du mir das
grössere von der
Unsterblichkeit in weit kürzerer Zeit wieder
einhändigtest.
Lebe wol und suche dein Paradies, dein Peru, dein Tempe und
deinen Prater wie ich, auf dem weissen und blauen Papier, wo
es kein
ärgerliches Wetter giebt, kein Mislingen, keine
Gesandten- und 322,25
Reichstagsformalitäten und keinen
Kephal- und Podagristischen
Wirth, der eine weisse Müze aufhat.
Wenn ich am Sonabend wiederkomme: so habe einige Skripturen
auf meine Kommode geschikt, ich bitte dich. Deine Dinte sieht schwarz
genug aus auf dem sehr weissen feinen Grunde.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 26. Januar 1791. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_357
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 4 S. 4° (eigenhändig paginiert). K: Otto den 29 [!] Jenner. J: Otto 1,25. B: IV. Abt., I, Nr. 121. 321, 1 10] aus 8 H 13 vorträgst] sagst K es] aus sie H 14 aber] hingegen K besprüzten K 16 Ausführung] Befolgung K 21 schickest] aus machst H 25 an diesem] aus durch dieses H 26 minder interessanten] bekanten K 27 hineinwirfst K 28 das Interesse K 322, 8 weil sie] die K
Otto hatte einen Aufsatz, anscheinend über Lehnsrecht, zur Beurteilung gegeben. 321, 30ff. Verweise auf das dem Corpus juris civilis angehängte mittelalterliche (langobardische) Feudalrecht. 322, 20 das von Bettlern: das ursprünglich für die Kreuzerkomödie bestimmte „Zwischenspiel des Harlekins“ (II. Abt., III, 324—328). 21f. Vgl. 315, 7†. 26f. Wirth: Richter scheint mit dem Postmeister Streit gehabt zu haben, vgl. Tagebuch, Anfang Januar 1791: „Zerfiel mit dem W—e., wieder ausgesöhnt, abgereiset und auf immer sind die Sonabendsklubs aus meinen Augen.“