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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 20. April 1791.

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[ Schwarzenbach, etwa 20. April 1791 ]

Unter dem Schatten Baierns — nämlich der Karte von Baiern, die ich gegen die Sonne mit dem Federmesser stat des Vorhangs ans Fenster gepfählt — schreib’ ich Ihnen heute, da ich erst gestern Ihren Brief mit grossem Vergnügen bekam, [mit] noch grösserm las und mit dem allergrösten nach Hof trug, um einer solchen Stadt zu beweisen, daß mir der Kollaborator nicht blos 3 Kouverts sondern auch 1 Brief geschikt, so lang, so wizig sei dieser [?]. — Mein Stilschweigen kam von Ihrem: den Henker! der sanfteste Johannes mus wol böse werden, wenn er hinter einem Ofen sizet und ein öffentlicher Schullehrer redet leise mit allen, die in der Stube sizen, mit ihm aber nicht und ich verdenk’ es dem Johannes nicht, wenn er hinter seinem Ofen kein Wort zum öffentlichen Schullehrer hervorspricht. — Da mein Brief auch eine epistola gratulatoria stat eines Karmens zu Ihrer Kollaboratur sein sol: so wil ich die nämliche Materie wie Sie abhandeln und dan erst wollen wir einander bei der Hand anfassen und in der Schulstube auf und abfahren und von allem reden. — Entweder die Achtung 1) der Sprache oder die 2) des Geistes der Alten kan iezt sinken. Ich glaube a) beides ist und mus sein und b) es thut auch nichts.

a) In Rüksicht der Sprache wissen wir, daß das 15te, 16te Jahrhundert nicht mehr da ist, wo man durch ganz Europa nichts lernte und lehrte als 2 Sprachen und wo das Latein alle gelehrte Schlafröcke von England bis nach Italien in 1 Bund zusammenzog — daß unser Latein deutsch ist gegen das eines Kamerarius, der ohne Noth den schmalkaldischen Krieg griechisch abfaste, und daß damals ieder Gelehrte Antiquar und Philolog war, der ein Inventar von allen Häusern in Rom im öden Kopfe hatte, und daß das Latein die Staats sprache und oft die Lieblingssprache der Grossen war. In unsern Tagen stekt sicher keine Frau mehr ihren meublierten und infulierten Kopf ins klassische Kummet, wenns nicht des Hermes Töchter thun. Das glauben Sie alles auch mit mir, so wie ich mit Ihnen, daß man die Alten besser kommentiere etc. Aber mit dem Werthe ihrer Verehrer wuchs ia nicht die Menge derselben und stat daß iezt Theologen, Mediziner etc. sich in die Universalmonarchie aller Leser theilen, sizen die Humaniora mit ihren paar pädagogischen Lehnleuten 〈Voßius〉 auf einem S. Marino Felsen. Jenen Wissenschaften laufen die Laien zu, diesen die Epopten davon. Auch der Geschmak am Geist [der Alten mus sich abstumpfen. Darunter] versteh’ [ich] ihren geraden festen Gang zum Zwek, ihren Has des doppelten dreifachen Schmuks (denn man schmükt iezt den Schmuk, bindet den Einband ein und trägt Ueber-ueberkleider und später wird man, um seine Frau ganz zu konservieren, auf Vice- oder Assistenzfrauen denken müssen). Verschieden [ist] der Geschmak des Volks und der einzelnen Person. Geschmak [ist] noch seltner als Genie; da er Sinnen für alle Arten von Schönheit voraussezt etc.; da nur Personen von seltner Eurythmie und Mensur aller Seelenkräfte seiner fähig sind, (daher Home sagt, Bos heit etc.) da eben deswegen das Genie wegen seiner Kraft Plethora entweder keinen Geschmak oder doch nur in den späten Jahren des entladenen elektrischen Feuers einen hat: so kan nie ein Volk sondern nur wenige die Nerven dieses seltnen Sinnes haben. Das athenische und seine Autoren hatten weniger Geschmak als wir und gleichwol ist das Vergnügen an ihren Produkten die Neuner- und Tiegelprobe des besten Geschmaks. Die uns unerreichbare, eben deswegen geniesbare Simplizität der Alten fühlten die Alten — nicht. Die griechische ist von der der Morgenländer, Wilden und KinderIn einer Erzählung eines Kinds ist die nämliche Verschmähung des Puzes und der Kürze, die nämliche Naivete, die uns oft Laune scheint und keine ist und das Vergessen der Erzählers Rolle über die Erzählung wie bei einem Griechen etc. nur im Genie ver schieden, womit das heitere griechische Klima iene Einfachheit auszeichnete; sie ist nicht eine Wirkung sondern Vorläuferin der Kultur. Eben ungebildete Völker schreiben einfach 1) wegen geringerer Ein-, Aus-, Übersichten wie bei Kindern etc. 2) [wegen der] Neuheit, die sie an [den] Gegenstand heftet und vom Puz wegreisset 3) [wegen ihres] thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt. Die Alten fühlten so wenig wie Wilde und Kinder die Reize ihrer Komposizion, weil dieses [?] Gefühl erst vom Vergleich und Kontrast scharf wird: die einfache Natur, womit der tyrolische Hiesel die Bewohner und Kenner der geschnörkelten Natur entzükt, kan der Hiesel selbst nicht fühlen und wenn die römischen Grossen sich am Spielen nakter Kinder labten, womit sie ihre Zimmer puzten: so hatten die Grossen, nicht die Kinder das Vergnügen und den Geschmak. Die Alten schrieben mit Geschmak ohne ihn zu haben (wie [bei] Haman etc. oft der entgegengesezte Fal ist) — die AthenerPlato, Sophokles haben oft die geschmaklosesten Auswüchse; ihre übrige Geschmakh[aftigkeit] verdanken sie also nicht ihrem Geschmak sondern ihrem Genie. beklatschten keine Redner mehr als die Antithesenfabrikanten; die Römer liebten Wort spiele etc. Hätt’ einer so geschrieben wie Schakesp[eare]: sie hätten sich alle um ihn gestelt. Ihrem ungebildeten Geschmak fehlten nur die luxuriösen Autoren, die der Luxus erst giebt. Denn es ist unmöglich, daß man vom besten Geschmak zum schlimmen steige; wer einmal einen am Einfachen gefunden, behält ihn ewig und wäre bei einem ganzen Volk der Besiz eines Vorzugs von Auserwählten möglich: so könt’ es ihn nie verlieren. — Den Geschmak am Geist der Alten können nicht einzelne Personen — denn das Gefühl für iene Rundheit der Komposizion mus durch die Uebung an allen Arten von Schönem, deren [iedes] Säkul neue zeugt, von Jahrhundert zu Jahrhundert empfindlicher werden — sondern [nur] ganze Völker [verlieren], um die durch [?] Verdorbenheit der Sitten der stinkende Nebel immer schwärzer wird, hinter dem iene Grazien stehen wie homerische Götter hinter ihren Wolken.

Die Alten verstehen und goutieren [ist] so verschieden etc. indes Lipsius mit geschmakloser Kürze dem Seneka und Bembo mit Wässerig keit dem Zizero nachspringen wil. O es gehören andre Herzen und Seelenflügel dazu als am und im Rumpf eines Krebs (der so sehr über die Devalvazion der Alten winselt und greint) stecken, um zu fühlen, warum die Alten den Plato den Götlichen nanten, warum Xenophon gros und die Anthologen edel sind.

b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert hätte sie alles gethan; aber im 18ten, wo alle Völker gradus ad parnas- sum in den Berg gegraben, kömts uns auf 2 Treppen mehr oder weniger nicht. Haben denn [die] Franzosen etc. nichts im griechischen Geschmak geschrieben? Wäre das: so wäre ohnehin an Mustern, die uns noch zu keinen Ebenbildern geführt, wenig gelegen; es ist aber nicht und die Omarsche Verbrennung der Alten würde [nur] ein wenig mehr schaden als wenn man den Herbstflor von einigen griechischen Tempeln umrisse — wir hätten und bekämen doch noch Häuser im griechischen Geschmak. Die Muster haben ia selber ohne Muster geschrieben und Polyklet hat seine Bildsäule ohne Polyklets Bildsäule gemacht. In Italien ist troz dem Studium der geschriebnen Antiken die Literatur auf dem Siechbet. — Bei mehr Fleis und besserm Unterricht könten wir alle noch 10 mal mehr lernen und doch noch am Sontag nach Gattendorf gehen. — Die Denk- und Schreibart mus mit iedem Säkul schwelgender [?], gedrängterDie Alten waren mit Worten und Gedanken freigebig, die Neuen sind mit beiden karg. [werden] — unsre polyhistorischen Kentnisse, die wir in 1 Perioden pressen, unsre Bekantschaft mit allen Wahrheiten, an denen nichts weiter neu zu machen ist als der Ueberzug etc. Fürs ganze Tonsystem der geistigen Kräfte ist unsere Period[ik] besser und Monboddo, der uns wieder nach Attika werfen wil, kan die umrollende Erdkugel nicht anhalten. —.. (Aber mit Erstaunen seh’ ich, daß ich nicht 3 mal „meines Bedünkens“ gesagt, da doch wahre Bescheidenheit sich ohne diese Dezenz-Wickelschwänze kaum denken lässet, obgleich ieder kein andres Erachten und Bedünken haben kan als sein eignes. Ich wil also im nächsten Absaz nicht ohne alle gelehrte Modestie schreiben.) — Ich meines Orts glaube, was das bessere Edieren anlangt: so möchte das, da der Geist eines Autors nicht in 20 Lesarten seshaft ist, wol nicht das Hauptsäch[lichste] zum Fassen dieses Geists beitragen, so wenig als einer, der einen deutschen Auktor nicht mit seinen Drukfehlern begrif, ihn deshalb in einer neuen von Erratis gesäuberten Edizion zu begreifen versteht. Indes kan ich mich irren, so wie auch darin, daß ich muthmasse, auch in Betref des bessern Erklärens dürft’ es [nicht] anders sein: Es mag nun der alte Auktor Lesern oder Primanern besser erklärt werden etc.: so lässet sich noch darüber disputieren, ob die Nominal- und Realkentnisse, noch so reichlich ausgespendet, einen dummen Leser in Stand sezen, den Auktor und Alten nicht so wol zu verstehen (das kan ieder erlernen) als zu goutieren (welches von Got herkömt). Denk’ ich Unrecht, wenn ich glaube, daß sonach ia auch alle Deutsche, die das Deutsche in der biblischen Geschichte inne hätten, die Messiade von Klopstok fühlen müsten, welches doch gar nicht ist. Und es wil mir vorkommen, daß wenn man auch einer Kleopatra Schleier und alle Röcke und Strümpfe abzöge, es einem Hämling im Serail nichts rechts hälfe. Anlangend Primaner: so hat noch keiner in allen primis einen Auktor aus dem goldnen Zeitalter goutiert, weil dieser Geschmak etc. ein Allerheiligstes ist, in das man den Weg erst durch den Heiden- und Weibervorhof des schlimmen Geschmaks und durch das Heilige des feinen nimt. Indes nehm’ ich mein Urtheil von Primanern gern zurük … Schlechter Geschmak kömt mit [?] daher, daß ich den Xenophon, Homer nicht zum Schulfenster hinauswerfen darf. Leider ists Reich der Wahrheit das Reich der Paradoxie. —

Können Sie nicht Herrenschmidts osculologie für mich erstehen, weil ich ihn haben mus, um nur, wenn mich einer fragt: was ist ein Kus, mit einer Nominaldefinizion und einigen litterarischen Notizen bei der Hand zu sein. Hier wil mirs kein Teufel definieren.

Am Mitwoch nach Ostern [27. April].

„Die Feiertage sind fort“ sagt ieder mit einem Seufzer über den Falkenflug der Erdenfreude. Heuer besteht für mich der Mai etc. aus lauter Feiertagen, weil diesen ganzen Sommer nach den besten meteorologischen Nativitätstellern und Teraphim am blossen nakten Himmel nichts zu sehen sein wird als die Sonne. Geniessen Sie den Mai, wo die Natur die ausgewinterte Erde mit Blüten räuchert.... Die Besorgnis (Sie sind bös) hat Ihr Stilschweigen und erster Brief bestätigt, Ihr 2ter geschwächt und Ihr dritter möge sie tilgen. Ich bin vor dem Angesicht des ganzen liebenden Frühlings etc.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Wernlein. Schwarzenbach a. d. Saale, 20. April 1791. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_373


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 373. Seite(n): 331-335 (Brieftext) und 523-524 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K (nach Nr. 369): Wernlein den 26 [!] Apr. 1791. B 1: IV. Abt., I, Nr. 126. B 2: IV. Abt., I, Nr. 129. A: IV. Abt., I, Nr. 131. 331,25 der 1) Sprache 332,11 ergänzt nach Unsichtb. Loge 1,191 (I. Abt., II, 120,32) 18 die hier beginnende Seite ist nachtr. überschrieben Formale Ausbild[ung] (vgl. I. Abt., II, 123,28) 23 die Nerven] oder den Nerven 333,33 kein Absatz 334,5 nur] ergänzt nach Unsichtb. Loge 1,196 (I. Abt., II, 123,20) 19 die hier beginnende Seite ist nachtr. überschrieben ein Mensch der dem Plat[o] verzeiht (vgl. I. Abt., II, 122,20) 335, 17 einer] oder eine

Vgl. zu Nr. 348. Tagebuch 1791: „In der Osterwoche die Freude … über einen Brief von Wernlein.“ 331, 9—11 Vgl. I. Abt., II, 214,28—37. 14 drei Kouverts: Einlagen an Freunde und Freundinnen in Hof; vgl. B 2: „Ich will mich sehr freuen, wenn mir Otto schreibt, daß Sie Ihm [!] auf seine Frage: ob dies ein ordentlicher Brief sey? geantwortet haben: nun er ist passabel!“ Richter hatte wohl Otto gegenüber B 1 für unzulänglich erklärt. 21 Wernlein hatte in B 2 geschrieben, es sei in einer dortigen Lehrerkonferenz angeregt worden, „dem neuen Direktor [Degen] bei seinem Antritt eine epistolam gratulatoriam, statt eines carminis zu überreichen“; wahrscheinlich werde ihn die Reihe treffen, und er wolle dann, angeregt durch Richters Bemerkung, daß die Alten mit den Jahren ihre Verehrer verlieren (306, 13), die Frage untersuchen: „nam justae sint querelae, quas de minus justa litterarum humaniorum aestimatione, hodie, uti putant, ubivis obvia, decantari solent?“ Richter möge ihm seine reifen Bemerkungen hierüber nicht vorenthalten. Die folgenden Ausführungen zu diesem Thema sind mit geringfügigen Abänderungen in das Extrablatt des 16. Sektors der Unsichtbaren Loge übergegangen. 32f. Joach. Camerarius d. Ä. (1500—74), „De bello smalcaldico“ (gedr. 1600). 332, 3 Der Romanschreiber J. T. Hermes trat für gelehrte weibliche Bildung ein. 19f. Home: vgl. 315, 16†; zu ergänzen ist: Bosheit sei mit Geschmack unvereinbar. 26ff. In dem berühmten „Discours sur l’universalité de la langue française“ von Ant. Rivarol (1784) heißt es: „Tous les peuples ont le naturel: il ne peut y avoir qu’un siècle très avancé qui connaisse et sente le naïf. Celui que nous trouvons et que nous sentons dans le style de nos ancêtres, l’est devenu pour nous; il n’était pour eux que le naturel. C’est ainsi qu’on trouve tout naïf dans un enfant qui ne s’en doute pas.“ Vgl. I. Abt., XI, 71,19ff. 333, 29f. Joh. Tobias Krebs (1718—82), Rektor der Fürstenschule in Grimma, Gegner des Philanthropismus. (Wernlein hatte gebeten, ihm die Namen der Kläger anzugeben. Schon im „Lob der Dummheit“ spottet Richter über die Gelehrten, die „in elendem Latein den Verfall des Studiums der Alten beklagen“, s. II. Abt., I, 341,5f.) 334, 13 Gattendorf: s. 298, 14†. 335, 16 Jakob Herrnschmidt, „Osculologia theologo-philologica“ (1630); s. I. Abt., IV, 93,6; vgl. B 1: „...o! es ist eine grausame Strafe, für die Küsse, mit denen ich einst oft lästig wurde, itzt nicht ein Wörtchen mehr sprechen zu können! Erinnern Sie sich noch des Billets, wo Sie wünschten, daß ich mehr sprechen als k.ss.n mögte?“