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Korrespondenz

Von Jean Paul an Karl Philipp Moritz. Schwarzenbach a. d. Saale, 7. Juni 1792.

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[ Schwarzenbach, 7. Juni 1792 ]

Ich wolte Sie hätten diese Seite schon hinuntergelesen, damit ich nicht erröthete über Ihr Erstaunen bei Anblik des Volumens. Das schwarze Wachstuch umwickelt wie das Leben eines Menschen Karakter, Freude, Schmerz, einen halbabgebrochnen Plan, kurz einen Roman, ich hätte beinahe geschrieben, einen Menschen. „Warum „schikst du (muß ich mich fragen) einen deutschen Roman — da diese „durch generatio aequivoca erzeugte Gattung von litterarischen „Leseleichen einen Man von Geschmak anekelt — einem Manne, den „du so liebst, der dich so oft traurig gemacht, wenn er dir zeigte, was „das Leben ist und der Mensch, der sich darin zerblättert, was der dünne „spize Augenblik ist, auf dem wir stehen, und wie zwischen unserm kurzen „Schlafe und Traum ein [?] Erdbal und zwischen den länger Schlafenden „und Träumenden ein wenig Erde liegt?“ Eben darum, sag’ ich. — — Man wird traurig, wenn man ein Buch endigt, weil man an alles denkt, was man noch endigen werde — ich bin jezt nicht heiter genug, um deutlich zu sein. Da ich Ihnen das Buch schicke: so würd’ ich die Meinung vergeblich zu verhehlen trachten, die ich von demselben habe und die mir nicht erlaubt, es wie einen amputierten Ldor auf der Buchhändler Börse zirkulieren zu lassen und es dem gefühllosen Tasten von geistigen Sklavenhändlern anzubieten, die ich nicht kenne. Es ist mir süsser, wenn ich weiß, ich schicke es zu einem Herzen, das, seine Superiorität abgerechnet, dem ähnlich ist, unter dem es getragen und genährt worden. Fanden Sie es nach dem Lesen desselben werth, von den wenigen gelesen zu werden, die Ihnen ähnlich: so bitt’ ich Sie ihm durch Ihr Urtheil oder einige Blätter oder das Ganze eine mer kantilische Hand zuzuwenden, die es aus der geschriebnen Welt in die gedrukte führe. — Um Ihnen das Lesen des Ganzen zu ersparen oder zu erleichtern, wolt’ ich Ihnen ein Inventarium der erträglichsten Stellen schicken; aber diese würden nichts taugen, wenn sie isoliert etwas taugten, und im Roman kan wie am Himmel nicht ein Luft segment sondern [nur] die Lufthalbkugel die Täuschung des blauen Himmels geben. — Diese Schriften, die einem Publikum nicht ge fallen können, dem Kranz[ische] gefielen und das eben so viel Ge schmak als Gelehrsamkeit besizt und nicht einmal die Mythologie (aus genommen seit einigen Jahren) versteht, die jede Pariser Dame so gut auswendig kan wie die irdische Mythologie, den almanac royal. Nimt diesen Fötus einer an: etc. Da ich nicht weiß, ob Sie oder das Schiksal mir die Erlaubnis an Sie zu schreiben — die ich mir mit zuviel Zudringlichkeit selbst genommen — jemals wieder geben werden: so trenn’ ich mich von Ihnen, geliebter Freund — dessen Gange der Ideen ich soviel verdanke wie seinen Ideen und dessen Geschichte soviel wie sein Denken lehrt — mit allen den Wünschen, die in einem Leben, das eine Fortschreitung durch Semitonien ist, die einzige erleichternde Sprache des so oft hintergangnen liebenden Herzens sind — die Wolke des Lebens ziehe langsam und schimmernd und mit sanften Thränen über Ihr Haupt und entblösse spät den Himmel, der auf der zweiten Welt liegt, die so weit zurükliegt und die kaum die Parallaxe einer Terzie hat. — Indem Sie auf dem steinigenden und blizenden Aetna des Lebens stehen, sei es Ihr Trost und meiner auch, daß wir dafür die Sonne schöner kommen sehen.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Karl Philipp Moritz. Schwarzenbach a. d. Saale, 7. Juni 1792. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_390


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 390. Seite(n): 353-355 (Brieftext) und 528-529 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K: An Prof. Moriz in Berlin 7 Jun. 92. i: Wahrheit 4,344. A: IV. Abt., I, Nr. 136 u. 137. 353,32 umwickelt] aus entwickelt 354,18 Fanden] vielleicht Finden oder Fänden

Laut Tagebuch hat Jean Paul das Manuskript am 14. Juni abgeschickt, und zwar an Göschen in Leipzig, der es nach Berlin weiterbefördern sollte, vermutlich weil Jean Paul Moritz’ Adresse nicht wußte, oder um Porto zu sparen. 354, 25—27 Vgl. 341, 17—23. 27 Diese Schriften: Richters frühere, satirische Werke. 29f. Mythologie: Moritz hatte 1791 eine „Götterlehre“ und einen „Mythologischen Almanach für Damen“ herausgegeben; auch an Ramlers „Mythologie“, Berlin 1790, ist zu denken. 35—37 Anspielung auf Moritz’ autobiographisch-psychologischen Roman „Anton Reiser“ (1785).