Von Jean Paul an Amöne Herold. Ohne Ort, Ende des Jahres 1792.
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Amoene
Es giebt keinen schönern Gedanken als den der Griechen — hinter
denen wir in der Schönheit der Ideen und der Körper bleiben —,
daß jeden Menschen ein Genius umgebe, der ihn mit seinen
unsicht
baren Flügeln kühlet, hebt und
bedekt. Wenigstens möglich ists, daß
höhere Wesen das für uns
sind, was wir für die Thiere — daß sie mit 369,1
unsichtbarer
Uneigennüzigkeit um die wichtigsten Handlungen des
Menschen,
nämlich um seine einsamen, und um seine wichtigsten
Gedanken,
nämlich um seine ungehörten Wache stehen. Auch wüst’ ich>
nichts, was der arme Mensch in der brausenden Waldung des Lebens 369,5
mitten unter Thieren — Irsteigen — wilden Jägern — Stürmen und
fallenden Bäumen nöthiger hätte als eine unsichtbare Hand,
an der er
williger und richtiger geht als an allen sichtbaren.
— —
Der Genius. 369,10
In der Mitternacht, die zwischen zwei Jahren liegt, wird die Sand
uhr des alten umgestürzt — Alle Genien
der schlafenden Menschen
ziehen in den Mond und fallen
nieder vor einem Thron, um den ein
ewiger Schimmer und
Zephyr flattert; für den, der sich darauf verhült,
hat der
Endliche keinen Namen. Jeder Genius führet hinter sich die 369,15
365 Wolken, durch die er seinen Menschen zog...
Ich wende mein Auge mit Schauer von den andern Genien dieses
Jahres, die mit volgebluteten Wolken, auf welche Leichname
und
Glieder geworfen waren, vor den stummen Thron des
Schiksals
giengen; und ich sehe blos den friedlichern
Genius an, der Deine 369,20
Wolken, A., beherschte und
leitete.
Dein Genius schimmerte wie eine Sonne im Regenbogenkreis von
Wolken, die nun auf ewig von der engen Erde in die weite Ewigkeit
geflogen sind. Er sah mit einem Auge den immer um ihn
wirbelnden
Wolken nach und zählte die, auf denen eine
Abendröthe, eine Neben369,25
sonne, ein
Regenbogen glimte — er wolte noch länger zählen, aber er
muste seinen Blik vol Liebe von denen abziehen, in denen Regentropfen,
Nebel und Dunkel niederhiengen. —
Erhaben und langsam zogen jezt aus der tiefen Ewigkeit in langer
Reihe die künftigen 365 Wolken eines jeden von uns, in denen
so369,30
mancher Bliz, so manches Eis auf unsern
unbeschirmten Busen
wartet. — —
Dein Genius schlug das Auge an dem stummen Throne dessen
nieder, den zwei Ewigkeiten umgeben, und sagte: „Ewiger, durch den
„ichs bin! Du siehst das zukünftige und ich nur das
vergangne 369,35
„Gewölk. Ach der arme zerrinnende Mensch
ruht drunten auf der „Erde mit bedektem Auge und träumt unter seiner Nacht nicht
von 370,1
„den Thränen, die jezt in jenen Wolken in sein Leben
ziehen. O
>„Alliebender, mein Herz ist zu weich! Nim aus
den Wolken meines
„Menschen alle Thränentropfen — zertrenne die schwülen —
um
„golde die trüben — das Morgenroth
der Jugend fliesse über den 370,5
„ganzen Kreis — und ach
wenn die wiederkömt, die Gewitterwolke,
„die schwarz über
der gequälten Brust und über dem gedrükten Athem
„steht, o
so lege dafür in sie das frische reine Wehen des abgekühlten
„Himmels — Aber ach da der Mensch doch eine versunkne Wasser
„pflanze ist, die ihre erschütterten gepresten Blüten
mühsam über die 370,10
„Wellen hebt, so lasse mich, wenn
eine finstre Wolke nicht weichen
„wil, in der Gestalt eines
Gedankens, in der Gestalt eines Liedes, in
„der Gestalt
eines Traums mit liebendem Zittern um die verdunkelte
„Seele fallen und sie bebend zwingen zu weinen, damit ich ihr das
„Zeichen gebe, daß ihr guter Genius sie umarmet habe“.....
370,15
Das Schiksal antwortet nie — die erste Wolke des künftigen Jahres
stand schon am Genius — — Er sank auf ihr zu seinem schlafenden
Menschen nieder
und umzog ihn damit. — —
Mein Genius fliegt neben deinem und seine Wolken decken, wenn
Güsse in ihnen liegen, einen tiefen Schatten auf die des
meinigen 370,20
und einen Purpurwiederschein, wenn
Abendgold sie überzieht. — O daß
doch den Menschen das
Schiksal so zusammendrükt, daß er sein Glük
weniger nach
der Farbe als nach der Zahl seiner Wolken schäzen
muß!
…
Fried. Richter
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Amöne Herold. Ohne Ort, Ende des Jahres 1792. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_412
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Kunst- und Altertümersammlung der Feste Koburg. 4½ S. 4°. K (von fremder Hand, mit eigenh. Korrekturen): SBB, Nachlass Jean Paul, Fasz. 13b. 5½ S. 4°. J 1: Morgenblatt, 25. Juni 1829, Nr. 151. J 2: Otto 4,210. K beruht auf einer abweichenden (älteren) Fassung. 368 ,28 Freundin] davor theure K 30 1792] aus 1793 K 369, 1f. mit unsichtbarer Uneigennüzigkeit] eine unsichtbare Uneigennüzigkeit zu ihren Pflichten rechnen, und daß sie K Uneigennüzigkeit] aus Unsichtbarkeit H 8 williger und richtiger] gehorsamer und sicherer K 14 flattert] aus ist K für bis 15 hat] nachtr. K 15 Endliche] aus Mensch K, Ewige J 1 J 2! 18 auf bis 19 waren] auf den[en] Glieder und Leichname lagen K 21 leitete] fürte K 24 Auge] davor feuchten K 26 glimte] über gemalet erschien K er2 bis 27 abziehen] aus die wolt’ er nicht zählen K 27 Liebe] nachtr. H 28 Dunkelheit herunterhiengen K 31 auf bis 32 wartet] aus verhüllet ist K 33 stummen] aus stillen K 370,2 Wolken] aus Tagen H 3 Algütiger K 4f. vergolde K 7 die bis 8 steht] die Brust mit einem schweren Athem niederdrükt K 13 verdunkelte] finstere K 17 auf ihr zu seinem] an ihr auf seinen K 18 nieder] nachtr. H 19 decken] werfen K 21 Purpurwiederschein bis überzieht] goldnen Wiederschein, wenn sie mit Abendroth überzogen sind K daß bis 22 zusammendrükt] der Mensch ist so vom Schiksal zusammengedrükt K 23f. schäzen muß] schäzt K
Vgl. Tagebuch, 27. Dez. 1792: „Blieb in H[erolds] Hause bis 2 Uhr; schönste Abend meines kargen Lebens; ein gesungnes Wort von ihr ‚Die Tage sind nicht mehr‘ beklemt mich zu Thränen … Schöner lezter Tag. Neujahrswunsch an H.“ 369 , 17—20 Die blutigen Ereignisse in Frankreich! 370, 9—11 Vgl. I. Abt., III, 94, 30—33 .