Von Jean Paul an Caroline Liebmann. Münchberg, 11. Oktober 1793.
Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.
[Nicht abgeschickt?]
Ich und Otto sind so fröhlich vom Wein und Wege daß ich weiter
die Freude durch nichts zu verdienen und zu vermehren weis als
da404,25
durch, daß ich sie ausdrücke —
und zwar vor Ihrem Auge, gute Ka
roline! —
Otto schreibt fliegend auf Pergament und ich hier auf dem,
was Sie weder zeigen noch verlieren sollen. — Verzeihen Sie
Papier,
Handschrift, Gedanken und alles, wiewol Sie mehr
gewohnt sind, zu
zürnen als zu vergeben. — Liebe, ich wil von
heute an in einem 404,30
Enthusiasmus, den Sie eher begreifen
als theilen werden, Ihnen die
Nachricht und mir die Freude
geben, daß ich allemal, wenn meine
bessere Seele über ihre
Ufer schwilt, Ihnen die Überströmungen der
selben enthüllen wil, da ich leider Ihnen bisher keine andere Seiten,> 405,1
als die, die nur für mein Geschlecht gehören, offenbaren
konte.
Liebe, Stille, Resignierende, jezt flieht der Ton, der weniger aus
Ihrer Kehle als aus Ihrem Herzen dringt, wie ein zurükwandelnder
Frühling vor mir vorüber und ich möchte meine ganze Seele an
Ihre, 405,5
und mein von der Freude feuchtes Auge an Ihres
legen, das oft dem
meinigen aus andern Gründen gleicht. Warum
ist der Mensch so, —
und doch wär es schlimmer wenn man fragen
müste, warum ist der
Mensch nicht so —, daß er vor keiner
Abendröthe, vor keiner epischen
Gegend, vor keiner
zerschmolzenen und zerschmelzenden Musik und vor 405,10
keinem
zitternden Abendstern zu stehen vermag, ohne an das zu denken,
was er liebt, ohne an eine Seele zu denken, vor der er von seinem
Herzen die Brust abreissen möchte, um ihr dasselbe mit allen
Schlägen
der Liebe freudig zu entblössen. — Jeder schöne Abend
mit Wolkenroth
war mir in Bayreuth ein solcher Brief an Sie —
und heute endige ich
405,15
erst den, den ich damals anfieng — — am fremden Orte
dehnet eine
unbezwingliche Sehnsucht nach der Seele, die man
liebt, den beglükten
Busen aus und man möchte in ein fremdes
Auge die Freudenheisse
Thräne und an ein fremdes Herz den von
der Freude gebornen Seufzer
giessen — — — 405,20
Liebe, Gute, mehr Geliebte als du weist, wenn du dieses Blat
bekömst, lieb [
abgebrochen
]
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Liebmann. Münchberg, 11. Oktober 1793. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_445
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 3 volle S. 4° (4. S. leer). Mit Blei darüber, wohl von fremder Hand: An O. [?] in Hof. O. ist mit Tinte in C. verbessert. J: Wahrheit 4,313× (11. Okt. 1792).
Karoline Christiane Luise Herold, Amönens Schwester, geb. 4. Febr. 1779, also 1793 erst 14 Jahr alt. Dennoch gehört der Brief wahrscheinlich in dies Jahr, vgl. Nr. 448. Es sind 5 Briefe Jean Pauls an sie in seinem Nachlaß erhalten, die er wohl bald wieder zurückgefordert oder gar nicht abgeschickt hatte. Von ihr hat sich keine Zeile erhalten. 405, 15 in Bayreuth: vgl. Nr. 441.