Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Hof, 16. August 1783.
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104,30
Hochzuver[er]ender Herr Pfarrer,
Ungeachtet eine Zeit von etlichen Tagen mich von Ihnen um
17
Meilen weiter entfernen wird, so brauch’ ich doch in diesem Briefe
keine Abschiedspredigt zu halten oder zu schreiben. 17 Meilen
machen104,35
uns einander nicht abwesender als es seit meinem Hiersein 2
Stunden 105,1
taten; ich sah Sie zeither eben so wenig als ich Sie
künftig sehen werde
und von Hof aus sprach ich mit Ihnen eben
so oft durch das Sprachror
der Briefe als von Leipzig aus geschehen
wird. Wir gleichen den
Nikariern, welche die Gewonheit haben, mit einander nur in
einer
105,5
gewissen Entfernung zu reden.
Oder vielmer ich gleiche ihnen. Sie
werden hinzusezen: „Richtig! und zwar darum gleichst du hierinnen den
„Nikariern, weil du ihnen in einer andern Sache gleichest. Diese
Leute
„sollen eine grobe Stimme haben,
die bei ihnen die Wirkung der
„genanten
Gewonheit ist“ — die aber bei mir die Ursache iener 105,10
Gewonheit ist. Unfigürlich: ich besuche Sie selten, weil
ich füle, wie
wenig ich Sie in der Nähe unterhalte, da ich
doch andre so in der
Nähe unterhalte wie ich Sie in der
Entfernung unterhalte und in einem
Gespräche wenigstens nicht
weniger Wiz anbringe als in einem Briefe,
solte dieser Wiz
auch nur 10lötig sein. Der Ursachen davon sind war105,15
scheinlich merere als ich errate. Vielleicht nämlich darum —
weil man
über den Genus des Vergnügens gern die
Wiedererstattung desselben
zu vergessen pflegt und den immer
am wenigsten unterhält, der einen
am meisten unterhält.
Vielleicht darum — weil unsre Übereinstimmung
in den meisten
Meinung[en] mit dem Widerspruch zugleich
das Ver105,20
gnügen, das er gewärt,
aufhebt. Der Streit ist der Stal, welcher den
Wiz
hervorschlägt. Man streichle die schwarze Kaze gerade den
Rükken hinunter, so wird ihr Fel nicht einen einzigen Funken von sich
sprühen; aber wenn man das Streicheln vom Schwanze anfängt und
die Hand den Haren entgegenfürt, so
springen die Funken davon, 105,25
die ich mit wizigen
Einfällen vergleiche. Vielleicht endlich darum —
um doch der
„Vielleicht darum“ ein Ende zu machen — weil ich mir
das
Verhältnis, worin ich sonst mit Ihnen stand, zu wenig aus dem
Sinne schlagen kan, als daß ich einer weniger ernsthaften Laune den
Zügel schiessen zu lassen vermöchte. Sobald die Laune ihre
Luft105,30
sprünge machen sol, so
müssen ihr vorher die Fesseln der Höflichkeit
abgenommen
worden sein, die eben soviel Ungelenksamkeit als
Schmerzen
verursachen. Die Laune gleicht den Vögeln, welche blos im
Freien singen und ungeachtet sie nicht wie der Quäker Kriege hasset, so
hasset sie doch wie er Höflichkeit. Doch warum such’ ich die
Ursachen 105,35
eines Felers auf, den vergeben zu müssen Sie
sobald nicht Gelegenheit
haben werden und den Sie mir
vielleicht williger verzeihen als ich? —
Da mir iezt der Wiz
felet, den Dank für die zeither geliehenen Bücher 106,1
einzukleiden:
so mag er nakt auftreten; wie ich denn überhaupt mein
Herz so
ser zu enthüllen pflege wie den Busen, der es verhült. Zur Ver
hüllung beider kan mich blos die Kälte zwingen. Vielleicht mus der,
welcher die
natürliche Gestalt seines Herzens enthült, eben das mit der 106,5
natürlichen Gestalt seines Kopfes tun. Von diesem leztern mag
diese
Seite ein Zeuge sein, so wie es vom erstern die übrigen
sind. Denn
gegen manches Wetterkülen
meines Wizes in diesem und meinen
andern Briefen möchte die
Kritik viel einzuwenden haben; und es
ges[ch]ieht auf Unkosten des
Geschmaks, daß ich in einen Brief ieden 106,10
Einfal, wie
die Gelertenbuchhandlung iedes Buch, aufneme.
Haben Sie meine Exzerpten durchgelesen?
Da in Leipzig ein Heer von Geschäften meinen Kopf erwartet, so
werd’ ich Ihnen vielleicht nicht gleich schreiben können. Nur
amen Sie
mich hierinnen nicht nach, da Sie Ihr Stilschweigen
weniger ent106,15
schuldigen können;
sondern machen Sie Ihren ersten Brief zur
Hebamme meines
ersten. — Empfelen Sie mich Ihrer Gattin, leben
Sie wol mitten unter den vielen Leuten, die nicht wol leben,
und
schreiben Sie nicht blos heute sondern auch künftighin
bald an
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Hof, 16. August 1783. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_57
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Brit. Museum. 3 S. 4°; Adresse auf der 4. S.: Herrn Herrn Vogel etc. in Rehau. K: 22. An Vogel in Rehau den 16. August. J 1: Wahrheit 3,224. J 2: Nachlaß 3,238. B: IV. Abt., I, Nr. 20. 104,35 machen] aus macht H 105 , 4 als] aus wie H 14 wenigstens] davor gestr. eben so viel H 106 , 8 Wetterkülen] Wetterleuchten K 16 können] aus könten H
106 , 11 Gelehrtenbuchhandlung: vgl. 75, 22†. 18 In Rehau herrschte die Ruhr.