Von Jean Paul an Carl August Werner. Leipzig, Ende Mai 1781.
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[Konzept]
Ich bin gesund in Leipzig angelangt. Die Stad ist schön; wenn man
eine Stad schön nennet, die grosse Häusser und lange Gassen hat
— für
mich ist sie noch einförmig. Und die herliche Gegend — die
Sie mir 6,25
versprachen — die find’ ich um Leipzig herum
nicht. Überal ein ewiges
Einerlei — keine Täler und Hügel —
völlig entblöst von dem Reize,
der mir die Gegend, wo Sie noch
wonen, sonst so angenem machte. In
vielen Sachen ist’s so hier,
wie Sie mir vorausgesagt haben — in
andern aber ist’s anders.
Für 18 Pfennige kan ich zu Mittage essen. 6,30
Ferner: Beim
Rektor Klodius hab’ ich die Inskripzion ganz geschenkt
bekommen — und eben so die Kollegien. Für mein schönes Zimmer
brauch’ ich nur 16 rtl. zu zahlen — aber dafür mus ich zu
Meszeiten
allemal ausziehen. Auch die Studenten — die gemeinen Leute sind
so
höflich, so polirt, wie Sie mir gesagt haben. Allein in
folgendem 6,35
scheint mir Ihre Vorhersagung nicht eintreffen zu wollen. Die
Informa7,1
zionen sind hier selten — und die
Menge der[er], die informiren, ist
unsäglich gros. In grossen Häusern nimt man nur die zu Informa
toren an, die Empfelungen an sie haben. Eine
Informazion also ist
hier ein nicht so gewönliches Ding — und
eine gute ist selten. Dies 7,5
hab’ ich selbst aus dem Munde
verschiedner Professoren gehört. Alle
haben mir das, eben nicht
tröstliche Sprichwort von Leipzig gesagt:
Lipsia vult exspectari. Und das exspectari ist so unbestimt, daß
man, wenn einer 50 Jar’
in Leipzig ist, und in diesen 50 J[aren]
kein
Brod [?]
be[kommen], ihm immer noch vorpredigen
kan, er solle nur 7,10
warten, es würde sich schon geben. — Die Mode ist der Tyran,
der
diese Stad beherscht. Alles gleisset und schimmert von
aussen — so die
Studenten — aber von innen, wie ich einen schon
kennen gelernt habe,
felt es an Kopf und Herz. — Der H. Magister
Kirsch von Hof ist mit
mir und dem Örtel nach Leipzig mit gereiset. Seine Gegenwart
hier
7,15
hat mir viel geholfen. Er hat mich bei etlichen auf’s
beste rekomman
dirt — beim Seger, und bei
Bel. Er hat mir auch ein recht gutes
Testimonium Paupertatis geschrieben — dieses darf ich nur
vorzeigen,
um alle Kollegien geschenkt zu bekommen: besonders
viel hat mir
dieses Zeugnis bei Prof. Platner geholfen, der die
Ph[ilosophie] ser
7,20
liebt. — Dies sind lauter unbedeutende Dinge: aber ich
habe iezt
nichts anders zu schreiben, und wenn ich der
Zerstreuung, in der ich
mich iezt immer noch befinde, entgangen
bin, so wil ich Sie vielleicht
[?] mit
wicht[igeren] Dingen unterhalten.
Schreiben Sie recht bald.
Mein Logis ist: in dem Gasthof zu den
drei Rosen in der Petersstrasse,
7,25
zwei Treppen, No. 2. gerade in
dem Hause, wo der Örtel wont; unsre
Zimmer stossen zusammen.
Denken [?] Sie ferner an Ihren Freund, der
weit von Ihnen ent
fernt ist, der aber
demungeachtet immer sich an die seligen Stunden
erinnert, die er
in Ihrem Umgange verlebte — der nie aufhört zu sein 7,30
gehorsamster Diener, Gefatter und wärmster Freund.
Ich war neulich, da [ich] mich von al
meinen Freunden in Schwar-
zenbach trente, so kalt; ich schien’s
wenigstens. Ich konte mir’s
damals nicht erklären. Jezt kan
ich’s. Ich wil ein Gleichnis dafür her7,35
sezzen: ie ruhiger auf dem weiten Weltmer alle Welgen,
alle Lüftgen
sind, desto mer wütet der Sturm, der auf die
Stille folgt — Je 8,1
länger unterirdischen Feuern der Ausgang
verschlossen ist, desto mer
braust’s auf, desto heftiger wüten
sie. Eben so — — — —
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Carl August Werner. Leipzig, Ende Mai 1781. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_6
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K (Konzept): I. An — W[erner]. i: Wahrheit 3,116×. A: IV. Abt., I, Nr. 3. 7, 13 einen] aus solche 28 f. entfernt ist] aus lebt 33 davor*), ohne daß im Text ein Zeichen entspräche; daß aber der Absatz im Brief stand, geht aus A hervor 8, 2 länger] aus mer 3 desto] davor gestr. um alle unterdrükte Kraft
Mit diesem Konzept beginnt das erste Briefbuch (s. S. 413). Richter wurde am 19. Mai 1781 in Leipzig immatrikuliert. Nr. 6—8 sind jedenfalls zusammen nach Schwarzenbach abgegangen (vgl. das Konzept von Nr. 8) mit einem (nicht erhaltenen) Brief an die Mutter. Karl August Werner aus Göhren im Merseburgischen, gest. 1797, war Schulrektor in Schwarzenbach und hatte Richter 1776—79 in den alten Sprachen unterrichtet; vgl. II. Abt., IV, 119f., 126f. Bei seinem am 22. März 1779 geborenen Sohne Johann Friedrich Benjamin, dessen Geburt der Mutter das Leben kostete, hatte der am Tage vorher 16 Jahre alt gewordene Friedrich Richter Pate gestanden. 6, 31 Chr. Aug. Clodius (1738—84), Professor der Philosophie, auch Dichter, war vom 23. April bis 16. Okt. 1781 Rektor der Universität Leipzig. 7, 14 Kirsch: s. Nr. 195†. 17 Joh. Gottlieb Seger (1735—86), Prof. der Jurisprudenz. Karl Andreas Bel (1717—82), Prof. der Poesie, Herausgeber der „Leipziger gelehrten Zeitung“. 18 In dem vom 15. Mai 1781 datierten Testimonium Paupertatis, dessen Original sich jetzt in der Sammlung Kippenberg befindet (s. Persönl. Nr. 4), werden besonders Richters Fortschritte in der Philosophie hervorgehoben. 20 Ernst Platner, bedeutend als Arzt, Physiolog, Philosoph und Ästhetiker.