Eintrag in ein Stammbuch. Von Jean Paul an Christian Heinrich Schütze. Leipzig, 26. Mai 1784.
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Eine wolgerathne Betrachtung über die Stambücher, 120,18
welche einen
geschiktern Kopf zu weiterm Nachdenken
darüber anfrischen sol.
Es ist kläglich genug, daß man dieses Feld zur Zeit noch gar schlecht
bearbeitet hat: denn wahrhaftig, ich wüste niemand, der uns
darüber
besonders glükliche und einigermassen scharfsinnige
Gedanken mit
getheilet hätte — ich müste
denn mich selbst ausnehmen. Diese Aus
nahme
zu rechtfertigen, wil ich hier dem Publikum in nuce die
Ab120,25
handlungen, welche ich einen
Satyr und darauf die Wahrheit über
diese Materie
glüklicherweise halten hörte, gütigst bekant machen und
sie
für meine eignen Produkte ausgeben, wie ich gemeiniglich zu thun
pflege.
Der Satyr sprach so: 120,30
Ein Stambuch ist ein Reallexikon, eine Musterrolle, oder auch ein
Lekzionskatalogus von Freunden. Ich weis nicht, drükke ich mich
viel
leicht deutlicher aus, wenn ich
noch hinzuseze: man kan es auch sehr wol
einen
Passagierzettel, ein Inventarium, oder gar eine Produktenkarte
von Freunden nennen. Am besten aber hiesse man es einen orbis
pictus
120,35
und scriptus, den lauter Freunde
bewohnen. Seines Inhalts wegen, 121,1
träumte mir heute früh, hat es
Anspruch auf den Namen einer Lieder
konkordanz und Polyglottenbibel. Auch enthält es Pränumerazions
scheine auf künftige Freundschaft, welche stets gelten. Was
man hinein
schreibt, ist ein wahres dictum
probans der wärmsten Liebe. Ein121,5
Spruchkästlein ist
auch manches; und ein Naturalienkabinet von
Geburten, welche
nicht überal zu sehen sind. Die Stambücher sind,
meines
Bedünkens, der einzige aber auch stärkste Beweis, daß die
Gastfreundschaft unter uns noch nicht ausgestorben: denn mit der
edelsten Bereitwilligkeit nimt man den Freund — wenn gleich
nicht 121,10
in das Haus, doch — in das Stambuch auf; das
leztere steht ihm stets
offen und er kan darin so lange seinen
Siz aufschlagen als die Wohnung
selber dauert. — Den Vers oder
den Spruch, den die Freundschaft in
dasselbe schreibt, kan man
ohne Anstand für das Sterbelied oder den
Leichentext ansehn,
den sie vor ihrem Tode sich selbst gewählet. —121,15
Endlich
schikken sich in das Stambuch ausser diesem allen wol nichts
besser als Zoten; einen stärkern Beweis der Freundschaft als diese
kenn’ ich wenigstens nicht: denn wenn es freundschaftlich ist,
sich dem
Freunde ohne Maske, Schminke und Puz zu zeigen; wie
unendlich
freundschaftlicher mus es nicht sein, vor ihm die
partes pudendas auf121,20
zudekken? Sprachs.
Die Wahrheit sprach aber so:
Lieber Satyr und lieber H. Richter, ein Stambuch ist auch ein
Pantheon, in welches weitzerstreute Freunde zusammenkommen und
zusammen walfarthen. Es ist das Sat- und Ernteregister der
Freunde;121,25
es ist das h. Grab derselben; oder die
Grabschriftensamlung von
denenselbst, die wir nimmer sehen
aber noch lieben. Es erzählt, wenn die
Hare die Farbe der
Unschuld angenommen, die Biographie der roth
wangichten Jugendiahre und zitirt die Freunde, die es überlebte, in die
Erinnerung zurük. Es — — — Weis mir, sagt’ ich, ein solches
Stam121,30
buch. Hier zog sie Ihres aus
der Tasche und ersuchte mich aufs
höflichste, mich
hineinzuschreiben. Aber womit sol ich dasselbe zieren?
Mir
fält weder ein eigner noch ein fremder Einfal bei. Ich schreibe also
lieber nichts hinein und begnüge mich, nur zu sagen:
Freundschaft sezen und Ihre Fr[eunde] überdenken: so
sehen Sie sich um und in dem Baum werden Sie auch
folgenden Namen mit stehend bleibenden Schriften ge122,1
schnitten erblikken —
N. S. Ich ersuche alhier [?] Leser: doch
nicht aus unglüklicher
Begierde, meine Ehre zu schmälern,
die Versicherung meines Freundes 122,5
und Nachbarn,
Örthel, daß er mein Schwanz oder Appendix sei, in
Zweifel zu ziehen; sondern vielmehr zu bedenken, daß ich
wirklich
mit dem Paradiesvogel verglichen zu werden
verdiene, der die
schimmerndsten
[?] und längsten Federn im Schwanze
trägt.
Zitierhinweis
Eintrag in ein Stammbuch. Von Jean Paul an Christian Heinrich Schütze. Leipzig, 26. Mai 1784. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_73
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K ohne Angabe von Adressat und Datum, von Ottos Hand datiert: Jun. 83. *J: Journal des Luxus und der Moden, XIV, Aug. 1799, S. 366. (Nur bis 121,30 zurük.) i: Nachlaß 4,224. 120, 18–20 so K, Betrachtung über die Stammbücher. J 19 welcher K 23f. mitgetheilet] so K, mitgetheilt J 24 selbst] so K, fehlt J 26f. über diese Materie] darüber K 32f. vielleicht] so K, fehlt J 33 hinzu setzte J, hinzufüge K 121,2 einer] so K, fehlt J 7 sind] so K, fehlt J 13 Den] Der JK den1] der J, fehlt K 15 gewählet] so K, gewählt J 18 kenn’] so K, kenne J 20 partes pudendas] so K, Schaamtheile J 23 R. J, Richt. K 27 nimmer] so K, nicht mehr J 29 wangichten] so K, wangigen J 30 zurük] fehlt K Es] von hier ab nach K, nur das Datum nach J.
Der Druck im Modejournal wird eingeleitet durch ein „Vorschreiben des Mitteilers der Betrachtung an den Verfasser“. Ersterer, J. F. Schütze in Altona, dankt darin zunächst dem (nicht genannten) Verfasser für sein neuestes Werk („Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf“): „Eine Stelle darinn über Damen-Stammbücher [I. Abt., VII, 478f.] erinnerte mich an ein den wackern Herausgebern des Modejournals schon vor langem gegebnes Versprechen, ihnen einen Ihrer frühern Aufsätze über Stammbücher, den ich in dem Stammbuche eines Ihrer Freunde fand und mit dessen Consens und zu diesem Zweck excerpirte, zum Einrücken zuzusenden … Ich hoffe bey Ihnen auf keine Weise anzustoßen, wenn ich ohne Ihren Consens diese frühen Funken Ihres großen Geistes dem Publikum mittheile...“ Aus Schützes Aufsatz über Jean Paul im „Deutschen Magazin“, Febr. 1798, S. 116, geht hervor, daß dieser „Freund“ sein Bruder Christian Heinrich Schütze aus Altona (1760—1820) war, der als Student der Theologie in Leipzig (immatr. 6. Okt. 1783) mit Richter und Oerthel verkehrt hatte; vgl. Persönl. Nr. 7 und 8. Auf ihn bezieht sich die Stelle am Schluß der Auswahl aus des Teufels Papieren (I. Abt., I, 564). Er wurde 1786 Pastor in Barkau (Holstein). Vgl. Euphorion XXI (1914), S 225f. 122, 6 Nachbarn: im Stammbuch.