Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 5. Dezember 1784.
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Es ist mir ordentlich als wenn ich nach langer Zeit dich wieder
einmal sähe, da ich dir schreibe. Aber wir wollen iezt noch nichts mit
einander reden, sondern stilschweigend zuhören, was unsere
Briefe, 132,20
dieser und dein lezter, mit einander reden
werden. Doch kan ich auch
protokolliren was sie sagen.
Angenehmes Gespräch, das dieser Brief mit deinem
leztern (vom 24 Nov.) gehalten hat;
dein vorvoriger Brief
komt zulezt auch dazu und macht die
Unterredung noch
132,25
lebhafter und lauter.
(Die beiden Briefe gehen mit einander die Stube auf und nieder
und meiner fähret so fort:) Aber, lieber Brief, sag’ mir, von wem hast
du dein Deutsch gelernet. — Dein Brief: Warum? — Mein Brief:
weil du einen guten Sprachmeister must gehabt haben. — Dein
Brief: 132,30
ich habe gar keinen gehabt: mein Bisgen Deutsch
hat mir mein Vater,
der Herr von Örthel, beigebracht; es ist
nur meine Vatersprache. —
Mein Brief:
So ist dein H. Vater ein geschikter Man und er solte ein
Sprachmeister werden. Ich habe in der vorigen Messe mit ver
schiedenen geschikten Büchern zu sprechen Gelegenheit gehabt;
aber 132,35
wahrhaftig ich hör’ dich weit lieber. Mein Papa, der H.
Richter, hat 133,1
mir zwar auch im Deutschen Stunden gegeben — denn
er hält viel
auf Privatinformazion —; aber mein Vater ist doch
in allem ein
sonderbarer Kauz. Er hat sich blos auf das
Deutsche geleget — neu
lich sagte er sogar
zu mir: „die wahre Bestimmung des Menschen ist133,5
„eigentlich, daß er, eh’ er die Welt verlässet, gut Deutsch reden lerne;
„aber wie viele verfehlen sie und wie wenigen kan man die
Grabschrift
„sezen: hier ruhet ein Man, der Deutsch reden
konte. Darum, lieber
„Brief, lege dich blos auf deine
Muttersprache; mit der komst du
„überal fort und ieder wird
dich schäzen“ — er ist daher bei allen guten 133,10
Sprachmeistern Deutschlands herumgezogen und einem gewissen
Lessing gab er für iede Woche, den Tag 14. Stunden, beinahe
Einen Groschen Informirgeld — gleichwol, — — du weist es ia.
Indessen hätt’ er doch endlich wol etwas gelernet; aber
unglüklicher
Weise wurde er in Leipzig
mit einem alten Übersezer, der 4 oder 5.
133,15
Treppen hoch (d. i. 5. Fächer hoch im Repositorium) bei
Seilern
wohnte, bekant. In diesen alten Man verliebte er sich nach und
nach
und er lag zulezt den ganzen Tag bei
(über) ihm: von diesem lies er
sich gewisse Bonsmots
[!] eines gewissen alten englischen
Spas-
machers, Swifts, verdolmetschen, wiewol
ich glaube, der alte Über-
133,20
sezer hat ihn manchmal zum Narren
gehabt. Allein wenn er nur nicht
darüber auch zugleich die alte, hole, stammelnde Stimme des alten
Mannes liebgewonnen hätte! Denn seitdem spricht er völlig wie der
alte Übersezer und es bringt ihn nichts davon ab. — Übrigens
weis
ich wol, ist mein Vater ein vortreflicher Man, ein Man
von den 133,25
grösten Talenten und er sagte mir gestern: er
habe noch nichts ge
schrieben, was nicht,
auch gleich in seiner ersten Gestalt, seinen völligen
Beifal
erhalten hätte. — Aber ich rede ia allein in Einem fort und
verstosse mich gegen die Regel des theatralischen Dialogs mit meinen
langen Monologen so sehr als H. Prof. Hempel in seinem
russischen
133,30
Drama, dem dein H. Vater einen schönen Stok aus
Vergessenheit
geschenkt; ich ersuche dich daher, doch auch ein
wenig zu reden. — Dein
Brief:
Ich bin dieser Einkleidung schon müde. Was ich mit Einem Worte
sagen könte, das sagt sie in 10. Dazu sind deine 2. Briefe nicht der Art, 133,35
daß ich sie im lustigen Tone beantworten könte.
(Der Anblik des kleinen Pakets wird dich gegen meine Saumseligkeit 134,1
im Verkaufe des Manuskripts erzürnet haben; aber du must deinen
Zorn widerruffen: denn eben die Post, die dir diesen Brief
bringet,
bringet dem H. Reiche mein Manuskript, das er an dich
wieder zurük-
geben wird, wenn ers nicht annimt, wie ich
fürchte.) Seit meiner 134,5
Abreise hab’ ich
12 Bogen umgearbeitet, die neu gearbeiteten un
gerechnet. Jede Umänderung, die ich machte, war eine
Bestätigung
des Tadels des H. Weiße und ich geb’ ihm iezt in
allem Recht. Ich
habe schon so oft den Kritiken, über die ich anfangs die
schiefen Achseln
zukte, zulezt Folge geleistet, daß ich mir für
die Zukunft vorsezen werde,134,10
unter die Gründe, womit ein
berühmter Man seine Aussprüche unter
stüzet, auch sein Ansehen zu rechnen und auf seinen Ruhm mehr Ge
wicht als auf meine Einwürfe zu legen d. h.
meine Vernunft zuweilen
gefangen zu nehmen. Im Grunde giebt es
gar keine Gefangennehmung
der Vernunft, und die
Entschliessung, einem andern aufs Wort zu 134,15
glauben, ist
eben ein Kind meiner Vernunft und verdankt dieser ihre
Festigkeit: aber die Theologen bedenken nur nicht, daß diese Ent
schliessung (zu ihrer Gefangennehmung in
theologischen Sachen) nur
von historischen
Wahrscheinlichkeiten gewirket wird und gleichwol sol
sie auch
auf wirkliche Widersprüche sich erstrekken, der Grund von 134,20
Sumpf, der ein Kartenhäusgen sehr gut trägt, sol einen
steinernen
Pallast tragen und die Wahrscheinlichkeit, daß die Apostel uns
nicht betrogen, wie es ihre Proselyten thaten, sol bei uns das
Über
gewicht über die Gewisheit, daß 3 wol nicht 1. ist, behaupten. —
Deine Klagen über die Intoleranz (auf dem ersten Blatte deines 134,25
lezten Briefes) hast du gewis nicht ganz auf mich gerichtet;
sie wären
alsdan wol gelinder; auch hab’ ich dir niemals — die
einzigen Augen
blikke der Hize des
Disputirens ausgenommen — offenbaren Anlas zu
ihnen gegeben. O
wenn man sich vom Ehrgeize so leicht loszu
wikkeln vermöchte als vom Eigennuze, wie leicht wäre dan die Tugend! 134,30
Aber so trit der erstere auf die Bühne wieder auf, von der man
mit
Mühe den leztern veriagte, und alle Fehler, die diesen
begleiteten,
vermehren wieder das Gefolge von ienem. Ich
beneide wol schwerlich
dem Nächsten sein Glük, noch gönn’ ich
ihm sein Elend; auch werd’ ich
wol schwerlich ihn bestehlen,
noch auch mich ie entschliessen, ihn zu 134,35
peinigen, oder sonst hart zu sein — aber lieber Moralist! das
alles bin 135,1
ich nur dan nicht, wenn von Geldsachen die Rede ist.
Sprichst du
hingegen von Ehre und guter Meinung des andern —
wahrhaftig dan
zieh’ ich meinen alten Adam wieder an, den ich
eben bei Seite geleget
hatte und nun hält mich nichts mehr ab, wieder neidisch zu sein
— 135,5
wiewol blos auf den Verstand des andern — wieder
schadenfroh zu
sein — wiewol blos über seine Demüthigung, wenn
ich im Disputiren
das Feld behielt — ihm Qual durch meinen
Tiefsin und meinen Ruhm
zu machen, und den leztern ihm wo
möglich zum Theil zu mausen. So
eine Besserung kan ich aber
keinen Tausch des Lasters gegen Tugend, 135,10
sondern
höchstens einen Tausch der Schwärze gegen Flekken nennen.
Allemal lass’ ich das, was ich unterbreche, unvollendet. Ich wolte dir
noch viel auf deine zwei vortreflichen Briefe antworten; aber
ich mus
es verschieben. Denn ich bin überhaupt durch das
immerwährende
Brüten über meinem Manuskript ganz entkräftet
und sieche an aller
135,15
Hize und Kraftlosigkeit einer
sizenden Henne. Das Verbessern ist
gegen das Schaffen, das
Brüten gegen das Legen, wahre Hunds-
arbeit; und in der That hätt’ ich den Rezensenten die
Ausbrütung
meiner Satiren überlassen sollen: so hab’ ich schon
oft gelesen, daß man
Hunde zum Aussizen der Eier nimt, wiewol auch Kapaunen sehr 135,20
wol dazu
angehen.
Es ist kein gutes Zeichen für meine Selenkräfte, daß ich in Para
graphen schreibe. — Der H. Pfarrer in Rehau giebt zu Ostern
ein
Buch heraus und hat schon seinen Verleger. Über das Vergnügen,
mich bei der Schöpfung desselben zu Rathe ziehen zu können und
135,25
durch den glüklichen Zufal meiner Flucht einen so
geschikten Accoucheur
habhaft geworden zu sein, hat er es mir
gern vergessen, daß ich ihm
seinen Katalogus verloren habe. Er
hat einmal ein Buch unter der
Feder gehabt, das besser war als sein ieziges, welches er
indessen auch
noch nicht ganz volendet hat. Wenn ich ihm doch
alzeit meine wahre 135,30
Meinung sagen dürfte, oder alzeit
ihn von derselben überzeugen
könte! Aber glüklicherweise
stelle ich mir dich zum Muster vor und
halte meinen Tadel so
höflich zurük als du den deinigen: denn ge
wöhnlich wartest du erst, bis andere meine Fehler aufdekken, eh’ du
gestehest, daß du wol nicht umhin könnest, sie auch zu sehen.
— Aber 136,1
die eigentliche Ursache, warum ich dir von seinem Buche
schreibe, ist,
ich wil dich etwas bitten: er wil nämlich einen
gewissen alten Aufsaz
von mir („über die vielen Religionen in
der Welt“) in dasselbe einrükken
(ich thue mir indessen auf das Glük dieses Aufsazes wol nicht
viel zu 136,5
gute, wenn ich wache; aber gestern wars mir doch
so im Traume, als
ob ich mit der Einrükkung desselben an
verschiedenen Orte[n] stark
geprahlet hätte). Dieser Aufsaz ist nun sehr verbessert unter
meinen
Papieren zu finden, aus dem du ihn hervorgraben solst.
Er stehet in
dem Manuskripte, worinnen das Lob der Dumheit ist
und welches in
136,10
zwo Hälften zertrennet ist: davon die eine das besagte
Lob, und die
andere Rapsodien enthält, deren erste dieser
Aufsaz ist. Dieses Mskpt.
ist in einem der Fächer der Kommode in meiner Kammer. Das ist
aber nur meine erste Bitte. Meine zwote ist: oben auf dem
Gesimse der
Kammer stehet mein Kästgen mit Briefen; in diesem
ist eine bogen136,15
lange Antwort und
Widerlegung des gedachten Aufsazes, deren Ver
fasser der H. Pfarrer ist; das wil er auch haben. (Beides
brauchst du
nur in deinem Wäschkästgen mitbeizulegen; solte es auch nur
wegen ge
wissen wizigen Ähnlichkeiten sein,
die ich zwischen beiden nicht umsonst
wil gefunden haben.)
Indessen kan ich für diese 2. Bitten wenig oder 136,20
nichts. Nun kommen eigentlich meine. Die dritte ist: trage das Paket
an den H. v. Archenholz in die Gelehrtenbuchhandlung. Die
vierte
ist: trage das andere zu Reiche. Die fünfte ist: trage den
Brief zur
Weinertin. Die sechste ist: trage einen andern Brief zum
Herman, dem
das Gesicht und die Stimme seines Vaters, den ich nun
gesprochen,
136,25
wahrhaftig keine Schande macht. Die siebente und lezte Bitte ist:
thue einmal selber eine
an mich. Im Vater Unser sind auch 7. Bitten,
wie mir iezt erst
einfält, zu meinem grösten Vergnügen. Doch möchte
ich dich
auch noch ersuchen, gesund zu sein.
Aus meiner künftigen Antwort auf deinen leztern Brief wil ich 136,30
doch das ausheben, daß mir deine Bemerkung von denen, „die
glauben,
„Got könne die Tugend aus blosser Liebe zur
Volkommenheit lieben,
„und gleichwol läugnen, daß es die
Menschen, ohne Rüksicht auf Be
„lohnung,
auch können“ ausnehmend gefället etc.
Schreib’ mir doch die Urtheile derer, die sich durch meine Flucht von 136,35
mir bestohlen glauben. Dieser lere und kurze Brief — gleichwol
werd’
ich ihn mir einmal wieder zurükgeben lassen, um ihn in
mein Korrespon
denzbuch einzutragen, weil
ich ihn noch nicht abgeschrieben; und selbst 137,1
diese leztern 6.
Worte wil ich mit abschreiben — verdienet kaum deine
Antwort.
Dennoch wird es dein Schade nicht sein, wenn du dem
Beispiele,
das ich dir vorm Jahre gab, nachzueifern fortfährest und
mehr
schreibest als der, an den geschrieben wird. Auch kanst du von 137,5
den Sinesern immer die Sitte annehmen, nach der sie an die
Vor-
nehmsten am kleinsten und engsten
schreiben; ie grösser der Man, desto
kleiner die Buchstaben;
und ie enger du schreiben wirst, desto höflicher
wirst du
schreiben, wiewol ich schwerlich hoffen darf, daß du an mich
etwan so höflich schreiben wirst, daß ich es gar nicht lesen könte. — 137,10
Deine Briefe haben für mich noch einen andern Nuzen, den du
gewis
mir am meisten gönnen wirst; den du aber nicht
erräthest.
(Wie steht es mit den armen Schneidersleuten im schwarzen
Brette? Dein H. Vater wolte ihnen ihr Geld schikken.)
Nicht blos vale sondern auch cura ut
valeas: bei dir ist das nicht 137,15
einerlei, wie bei
dem Zizero. Möchtest du so zufrieden leben können wie
dein
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 5. Dezember 1784. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_83
Kommentar (der gedruckten Ausgabe)
SiglenH: Berlin JP. 6 S. 4°. J 1: Wahrheit 3,373×. J 2: Nachlaß 2,294×. 132,29 Deutsch] hier und im folgenden möglicherweise auch deutsch 32 nur] aus sonach 34 in] aus auf 133,1 Papa] davor gestr. Vater hat mir 6 eigentlich] aus unstreit[ig] 10 fort] aus durch 29 des] der 134,3 widerruffen] aus wiederruffen 16 eben] aus wieder 18 in theologischen Sachen] nachtr. 20 auch bis erstrekken] aus wirkliche Widersprüche unter sich begreiffen 135,2 Sprichst du] aus Sprecht ihr 26 Accoucheur] aus Akkoucheur 136,9 hervorgraben solst] aus hervorzugraben von mir gebeten wirst 137,7 Man] aus Gegenstand 12 erräthest] aus erräthst aus vermuthest
133,15ff. Der alte Übersetzer ist Heinrich Waser (1714—77), der „Swifts satirische und ernsthafte Schriften“, Zürich 1755—66, in 8 Bänden herausgab. 30f. Chr. Gottlob Hempel (1748—1824), Magister der Philosophie in Leipzig: „Peter der Große, Kaiser von Rußland“, musikalisches Drama, Leipzig 1780; Richter verwechselt ihn mit dem 31,20† genannten Professor. 134,4 Reiche: vgl. Nr. 85†. 8 Tadeldes H. Weiße: vgl. 113,21f. 135,23ff. Über Vogels Buch s. zu Nr. 68, über sein früheres 59,1f. 136,3ff. Der Aufsatz „ Über die vielen Religionen in der Welt“ (vgl. zu Nr. 17) wurde im 2. Band der „Raffinerien“, S. 260—270, abgedruckt. 22 Archenholz: s. Nr. 84. 24 Weinertin: Richters Leipziger Speisewirtin, bei der er Schulden hinterlassen hatte; vgl. 142,32ff. Der Brief an Hermann war vermutlich von dessen Vater, nicht von Richter, denn Hermann schreibt am 23. Januar 1785 an Albrecht Otto, er stehe jetzt gut mit Richter, aber noch habe keiner an den andern geschrieben (Schreinert S. 32f.). 36ff. Diese Nachtragung des Briefs im Korrespondenzbuch ist unterblieben. 137,13f. Über die Schneidersleuteimschwarzen Brett gibt Schreinert S. 18, Note 50, Auskunft.