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Korrespondenz

Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 9. Februar 1785.

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Hof 9. Febr. 85.

Örthel!

Eh’ ich den neulichen Brief, den du nicht erhalten hast und der
noch einen an Archenholz einschlos, aus meinem Gedächtnis wieder 146,25
palingenesire — denn abgeschrieben hab’ ich ihn so wie die übrigen
iezigen an dich, leider nicht, und wenn ich dich wieder sehe, werd’ ich
dich bitten, mir meine Briefe kopiren zu lassen — so sei doch vorher so
gut und gehe zu Haugs Witwe, welche die Kommissionen vom
H. Kommerzienrath Maier besorgt, dem ich auf sein Anerbieten den 146,30
gedachten Brief beizuschliessen gegeben hatte. Bekomst du ihn freilich
gar nicht wieder: so wil ich ihn noch einmal machen.


Schreibe mir es einige Tage vorher, eh’ du deinem H. Vater die
Ursache von der Lage, worin du iezt bist, entdekkest: denn ich möchte
nicht gern gerade in dem Augenblikke, wo dein Brief ankomt, zu146,35

gleich auch ankommen. Aber meinetwegen verschiebe deine Eröfnung 147,1
keinen Augenblik.


Von litterarischen Neuigkeiten lese und höre ich hier sehr wenig.
Ich habe zwar erwartet, du würdest ein genaues Tagebuch über alle
Neuigkeit des Parnasses führen: ich glaubte sogar, du würdest es mir 147,5
hernach gern mittheilen; allein soviel ich sehe hast du Lust, mir besagtes
Tagebuch gar vorzuenthalten und ich werde mit der Lesung desselben
wol so lange warten müssen bis ich dir es einmal selber stehle.


Deine Antwort auf den meinigen [!] ist so kurz wie ein Kommando
wort und ist im Grunde nur eine geschikte Abbreviatur eines Briefes; 147,10
allein das ist eine Kürze, die man wol so wenig wie die senekaische
empfehlen kan. Zizero gab auf die Frage: welche Rede des Demosthenes
die schönste wäre; die Antwort: die längste. Aber eben diese Schönheit,
die Schönheit der Bogenzahl, die allen andern Schönheiten erst die
Krone aufsezt, vermiss’ ich an deinen Briefen nur gar zu sehr: träten 147,15
sie einmal gedrukt ans Licht, so würd’ ich sie gewis rezensiren, aber dan
vielleicht diesen Fehler nicht sehr freundschaftlich rügen. Ich würde ihn
indessen doch entschuldigen, diesen Fehler, wenn ich nur nicht wüste,
daß du ihn freiwillig begehest, blos um einige Dreier Papier zu er
kargen. 147,20

Kant ist in gewissem Betrachte eine Misgeburt. Neulich las ich von
einer in Frankreich (glaub’ ich) die ein Herz hatte, das so gros war
wie der Kopf selbst; der ähnlicht Kant völlig. Sein Herz giebt seinem
Kopfe wenig nach. Ich wil die Ironie verlassen: hast du einen Aufsaz
von ihm über eine neue Art von Geschichte in der berlinischen Monats- 147,25
schrift gelesen? Da find’ ich den edlen Geist des Alterthums, durch
welchen Herder, Garve etc. entzükken, eine Vaterlandsliebe der ganzen
Welt und nur den Epikur nicht, diesen Zizisbeo von der Jungfer
Europa. Dasselbe Gepräge trägt auch iene Stelle in seiner „Kritik“,
wo er von den Idealen und von Plato’s Republik (die ich iezt auch 147,30
gelesen habe; über die Tugend ist gar noch nichts so geschrieben worden
wie diese Rep[ublik]: ich weis, du bist ausser dir, wenn du sie lesen
wirst) spricht; oder auch das Ende derselben, wo er den Säzen, deren
schwache Stüzen er zerbrochen hatte, bessere unterstellet. Ich weis
aber nicht wie Platner ihn mit Hume vergleichen können, da er nichts 147,35
weniger als ein Skeptiker ist: es müste denn ieder einer sein, der etwas
läugnet. In der A. D. Bibliothek stehet eine Rezension der „Kritik“ die
bescheiden ist und gute Erinnerungen macht, an der aber immer das 148,1
zu tadeln bleiben wird, daß sie nicht so dik ist wie das Buch, das sie
berichtigt und lobt.


Von Kant, von seinen Büchern und von seiner Existenz weis hier
zu Lande niemand etwas; indessen würde der Schlus, daß man daher 148,5
in Hof wol wenig lesen und denken müsse, nicht sehr richtig sein: viel-
mehr kan man den Kommerzienrath Maier zum Zeugen aufstellen,
daß die „Reisen eines Franzosen“ hierum algemein gelesen und von
Personen beiderlei Geschlechts glüklich beurtheilet worden sind. Ich
bin heute zwar sehr schläfrig und mat; aber eine Anekdote, die wörtlich 148,10
wahr ist, wil ich dir doch erzählen.


Ein Edelmängen fuhr vor dem Laden Maiers vorbei und, um
den iungen Damen, die er unterhielt und denen er den Himmel ihrer
Kutsche zu einem wahren Himmel (oder auch Bethimmel) machte,
zu zeigen, daß er und die Litteratur sich einander gar wol kenten, 148,15
sprang er aus der Kutsche in den Laden hinein. Er begehrte vom
Ladeniungen ein gutes, schönes neues Buch; er nante aber keines.
Dieser hinterbrachte es dem Maier, daß drunten ein Herr wäre, der
ein schönes gutes etc. Buch verlange. Bei dem wiederholte der Edelman
sein Begehren. Die Vorstellungen des Maiers, daß unmöglich der 148,20
Krämer den Käufern sagen könne, was für Ware sie haben wolten,
schlugen endlich wirklich an und der Edelman gebar nach einigem
Nachdenken die Worte: „Nun so wolle er sich Lavaters Physio-
gnomie
ausgebeten haben“. Auf die leicht zu errathende Antwort
des Buchhändlers versezte er: „das wäre schlecht, ein so wichtiges 148,25
„Werk nicht im Laden zu haben; er wolle es sich aber verschreiben
„lassen, wenn das Buch auch etwas über ein Paar Gulden machte“ etc.
Der Edelman kaufte für keinen Dreier ab.


Neulich kauften in meiner Gegenwart zwo Edeldamen (die eine
schien iung und unbemant zu sein) ungefähr für 6 Bazen gedrukte 148,30
Neuiahrswünsche. Da es nicht mehr als 6 Bazen waren: so brachen
sie auch nur einige Kreuzer ab. Der Diener schüzte indessen vor: „das
„gienge nicht wol an: sein Herr hätte sie selber nur in Kommission“.
Mich freuete hier die wizige und scherzhafte Wendung, womit die
ältere sich aus dieser Klippe ihres Geizes und ihrer Ehre zog. „Ach! 148,35

„lassen Sie es geschehen, wir (beide) haben diesmal nicht mehr mit“ 149,1
(als nämlich 6. Bazen) versezte sie scherzend und lächelnd. — Feine
Lebensart und Sitten der grossen Welt sind unter dem hiesigen Adel
etwas sehr gemeines, wie denn der ganze weibliche Theil auf der neu
lichen Retoude mit halb hervorstehenden und unbedekten Brüsten149,5
tanzte und weder das Gesicht noch den Busen mit einer Larve be
lästigte.


Dem Herman sage, daß er seine Furcht, hier in Hof sein Unglük zu
machen, fahren lasse: die hiesigen Doktoren werden das Opfer des
ersten besten sein, der sie übertrift. Daß freilich Doppelmaier iezt in 149,10
Rusland schwizt, daran ist er selber schuld: er hatte hier die ganze
Kundschaft von Pazienten; allein er wolte den Arzt nicht spielen ausser
etwan auf dem unfigürlichen Theater in Heiners Grün mit Kindern. —

Ich wolte nicht viel schreiben; und siehe! schon 8 Seiten hab’ ich
angefüllet. Ich erwarte, daß du zwar karg bist; allein nur 4 Seiten 149,15
auf 8. Seiten antworten, das kanst du doch thun. Fals du den fehlenden
Brief von Haugs Witwe nicht herausbrächtest: so schreib’ mir es ia
gleich.


An den Keyser in Erfurt schikke mein Manuskript etwan mit; er
verlegt viele satirische Schriften. 149,20

Um dich mit dem Landeshauptman auszusöhnen, meld’ ich dir, daß
er viel Gutes von dir spricht und auf deine Bekantschaft begierig ist.
Wie gut ists, daß der Vorschlag des Momus, an der Brust des
Menschen Fenster einzusezen, nicht durchgieng! Könten die Leute hier
durch eine Glasthür in deine Brust hineinsehen: sie würden alle 149,25
den Kopf schütteln und zu einander lächelnd sagen: „dem Menschen
„sein Herz ist doch ein wenig gar zu gros“. Auch dürfte dir, fals du
eine hiesige Geselschaft mit feinen Scherzen belustigen woltest, der
Kriegsrath Kranz die besten Dienste thun. —

Die Weinertin hat an meine Mutter geschrieben: sie wird ihr 149,30
bald antworten.



Lebe wol mein theu[er]er Freund.
Richter

Und grüsse mir den lieben Herman, der nichts von sich hören lässet.

Noch einmal frankir’ ich meinen Brief nicht, aber warlich ich —149,35
kan nicht anders.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 9. Februar 1785. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_92


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 92. Seite(n): 146-149 (Brieftext) und 459 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 5 S. 4°; die Blätter einseitig beschrieben wie bei Nr. 89 u. 90, mit Ausnahme des letzten. J 1: Wahrheit 3,387×. J 2: Nachlaß 2,304×. 146,25 einschlos] aus enthalten 31 Bekomst bis 32 machen.] nachtr. 147,8 selber] aus selbst 9 Deine Antwort] aus Dein Brief 148,4 seinen Büchern] aus seinem Buche 14 die Parenthese nachtr. 29 zwo] aus zwei 149,1 ( beide)] nachtr.

146,29 Haugs Witwe: ein Leipziger Verlag. 30 Maier: s. Nr. 173†. 147, 12f. Vgl. 65, 25f. 24–29 Kants Aufsatz „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, im November 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen, berührt sich mit Herders „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit“. 29–33 Kritik der reinen Vernunft, im Abschnitt „Von den Ideen überhaupt“; Plato’s Republik: vgl. 139, 21f., 169, 1f. und I. Abt., I, 455,34ff. 37ff. Allg. Deutsche Bibliothek, Anhang zum 37.—52. Bande, II, 838ff. (von Garve). 148, 8 „Reisen eines Franzosen“: es ist hier wohl nicht das vielbändige Werk von J. de la Porte (Leipzig 1768—92) gemeint, sondern die 1783f. anonym erschienenen „Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland“ (von Kaspar Riesbeck), aus denen Jean Paul im Hesperus eine boshafte Stelle anführt (I. Abt., III, 279,6–9; die Anmerkung dazu ist zu berichtigen). 23–27 J. C. Lavaters „Physiognomische Fragmente“ (4 Großquartbände, 1775—78) kosteten 100 Taler. 149, 9 die hiesigen Doktoren: vgl. 107, 7†. 13 Heinersgrün: ein sächsisches Dorf, 10 km nordöstl. von Hof; worauf Richter hier anspielt, weiß ich nicht. 14 8 Seiten: eigentlich nur vier; da aber die Tinte durchschlägt, sehen auch die leeren Rückseiten wie beschriebene aus. 21 Landeshauptmann: Weitershausen, s. 52,2 †.