Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 30. Oktober 1820 bis 1. November 1820.
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75,13
Mein guter Heinrich! Habe Dank für die „Wiederbringung aller75,15
Dinge“ nicht so wol als deiner Briefe, ohne die ich
ordentlich nicht recht
mehr leben kann. Denn sie bringen
mir so viel Neues an Sachen und
Gedanken und so viel
Altes, nämlich deine schöne Liebe. — Tausend
Dank sei euch
allen für die gegen meinen glücklichen Max gesagt!
Ach
mit seinem Viertels-Glück hätt’ ich in meiner farblosen
Jugend ein75,20
ganzes gehabt.
Eben las ich im Morgenblatt N. 89. von Müllner eine
Rezension
meiner Doppelwörter, die nichts als eine lange Lüge und
Bosheit ist;
denn die Vorrede zur 3ten
Auflage des Hesperus S. 11 hat ihn zum
75,25
Feinde eingesäuert. Die Einkleidung einer so
trocknen Sache, die selber
Thiersch gefiel, ist ihm
verhaßt. Das Widerlegte behauptet er ohne
Weiteres nur zum 2ten male.
Aber vollends das, was ich lange gegen
Wolke vertheidige, wie Rosenblatt, Rattenschwanz etc. (S. 57), läßt
er mich verwerfen und auf Rosblatt etc. dringen; und
wieder umgekehrt75,30
läßt er mich Nüssebaum behaupten, indeß ich gerade auf das rechte
Nußbaum etc. etc. S. 141 so viel baue. Das Schlimmste ist,
daß der
tückische ästhetische Rabulist meine mit guter
Laune erzählte preußische
76,1
Präbendengeschichte — aus Haß gegen Preußen und mich —
unter
Lobvorwand zu meinem möglichen politischen Nachtheil auszieht; so
wie er schon
2mal Göthe’s wolwollendes Urtheil über mich im Divan
zu einem feindlichen verdrehte. Schon seit Jahren hass’
ich diesen76,5
zweiten Merkel,
den er nur in dem juristischen Wehethun übertrifft, aber
an Witz und Leichtigkeit nicht erreicht. Ich habe über
diese Hornisse mit
3 Stacheln — Merkel war nur eine Wespe mit 1 — recht stark an
Cotta geschrieben und ihm gesagt, daß ich am Ende diesem
Franziskus
wie Merkeln erscheinen und ihm einige Wundenmale (ein Strick von76,10
unten nach oben gerückt wäre freilich besser) eindrücken würde. Eine
Anekdote seines Gemüths nur kurz: der Professor Levezow in
Berlin bat
ihm zu Gefallen die besten Schauspieler zusammen. Nach
langem
Warten erscheint er — sagt dem Wirthe etwas ins
Ohr, nämlich die
Frage nach dem Abtritt und wird von jenem
mit 2 Lichtern dahin ge76,15
führt,
wo er noch sitzen kann, denn er kam nicht wieder zurück.
Schenkte doch Gott meinen „Doppelwörtern“ nur Einen tüchtigen,
unparteiischen, wenn auch anders glaubenden Richter! —
Aber das
Rezensierwesen ist jetzo wegen der Menge der
Bücher eben so flach als
unvollständig.76,20
Desto froher, Alter, bin ich über dein Versprechen — das aber bald
halte, bitt’ ich recht — den Kometen wie ein Zach
anzuzeigen. Das Aus-
ziehen der Geschichte wirst du dabei,
hoff’ ich, klüger als andere, unter
lassen.
Engelmann soll mir doch einmal meine Freiexemplare
schicken;
76,25
1 auf Velinpapier (das 2te dir) und 10 auf Schreibpapier (wieder eines
oder 2 dir). — Auf deines Vaters Büchelchen freu’ ich mich unsäglich,
aus Lust an Sprache, Kraft und Sinn. Seine neulich
wiedergelesene
Rezension der „grammatischen Gespräche
von Klopstock“ macht mich
nach jeder deutschen Seite von ihm und noch mehr nach
seinem deutschen
76,30
Wörterbuche lüstern, das uns das verlorne von
Lessing ersetzen könnte.
Sub rosa! (Denn in deinen Briefen sollst du nichts
verrathen 〈höchstens
lateinisch〉 und Max soll es in seinen auch nicht, da ich ungern mein Ziel
so lange voraus wissen lasse) Im Frühling will ich mein
Reiselaub77,1
hüttenfest in Manheim feiern, des Rheines wegen — diesen denn noch
mehr genießen und in Kreuznach etwas hausen, das meinem
Herzen
sanfter thun wird als das steinerne München mit seiner Oede. Wie ist
die Landschaft um Xnach? Vielleicht geh ich sogar nach
Koblenz.
77,5
Ob ich freilich nicht zuerst nach Heidelberg komme, muß dein Herz
wissen. — Nun grüße alle Deinige von meiner ganzen Seele!
du guter
treuer Mensch!
Die Herzogin von Kurland sprach ich vorvorgestern; ich sagte ihr
77,10
deine Vorkehrung in ihrem Gasthofe; und sie
wünscht dich sehr zu sehen.
Lies doch meinen Aufsatz
über sie im Cotta’schen Damenkalender.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 30. Oktober 1820 bis 1. November 1820. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_111
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Landesbibl. Eutin. 4 S. 8°. K 1: Voß 30 Okt. ab 3 Nov. K 2 (von Karolinens Hand): Berlin JP. J 1: Wahrheit 8,261×. J 2: Voß S. 116×. J 3: Schneider Nr. 6×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 71. A: IV. Abt., VIII, Nr. 79. 75,15 die] aus deine H 30 auf] aus schreiben H dringen] über schreiben H 76, 3 möglichen] nachtr. H 7 über] aus gegen H 15 jenem] aus diesem H 34 mir es] aus michs H 77, 3 in] aus nach H 5 um] aus von H
75, 33 f. In der Müllnerschen Rezension heißt es, die J. P.sche Abhandlung sei „im Marottenstyl abgefaßt (etwas ganz anders als der style marotique der Franzosen, die bekannte epigrammatische Schreibart, die von Clément Marot den Namen führt)“. 76, 9–11 Vgl. 64, 22–25. 12 Konrad Levezow (1770—1835), Professor in Berlin, s. Allg. D. Biogr. 18,504; Bd. VII, 482, Nr. 238. 22 Zach: vgl. I. Abt., XII, 418, 32–34. 27 Büchelchen: wohl die „Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe“ (1820); vgl. 84, 16f. 29 Rezension der grammatischen Gespräche: in der Jenaischen Allg. Literaturzeitung, Jan. u. Febr. 1804. 77, 3 Kreuznach: vgl. Nr. 99† u. IV. Abt. (Br. an J. P.), VIII, Nr. 81. 5 Koblenz: vgl. 197 , 4–6 .