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Korrespondenz

Von Jean Paul an Max Richter. Bayreuth, 25. Dezember 1820.

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Baireut d. 25 Dec. 1820

Mein guter Max! Deine Briefe haben mich sehr erfreuet und gerührt. Aber die theologische Kanne-gießerei, die du bei Feuerbach einsaugst, beängstigt mich für deine Jugend; eine unwiederbringliche Zeit, die du heiter ohne Mönchgrillen zubringen mußt, wenn nicht meine Erwartungen von dir untergehen sollen. Dieser immer und ewig einseitige Kanne ist gerade so schwärmerisch in seiner Theologie und sinnlosen Typologie und in dem erbärmlichen Leben seiner Heiligen, wie ers in seinen „Urkunden“ war, wo er alle historische Personen des Alten Testaments für bloße astronomische Zeichen 〈Sinnbilder〉 ansah. Studiere doch die Entstehung 〈Geschichte〉 des Christenthums, der Evangelien und Apostelbriefe, die man erst am Ende des 2ten Jahr-Hunderts zum Theil durch Irenäus kennen lernte, und eigentlich ihr Verzeichnis An fangs des 3ten durch Origenes. Siehe nach, wie diese Apostel noch immer eingeschränkte Juden (eine erbärmliche, unmoralische Sekte mit ihrem zornigen Jehova) blieben und z. B. Hurerei und Blutspeisen mit gleicher Wärme verboten (Apost.-Gesch. 15, 20), oder wie sie, z. B. Paulus mit Petrus, unter einander zankten oder Paulus sich wider sie lobte (2 Epist. an die Korinther K. 11. 12.), oder wie sie einen 12ten Apostel durch das Loos wählten. In allen Reden Christi ist kein Wort von der wahnsinnigen Lehre von allen mit Adam zugleich mitfallenden 〈gefallenen〉 Seelen oder gar von der Genugthuung. Gott bekehre dich zu dem heitern Christenthum eines Herders, Jacobi, Kant. Lies doch Paulus Kommentar über die 3 Evangelien oder frage ihn selber. Kanne ist ein schlechter Exeget und Historiker. Lies doch lieber, wie ich in Leipzig, 1) Arrians Epiktet, 2) des liebenden Antonins Selbstbetrachtungen und 3) Plutarchs Biographien. Es gibt keine andere Offenbarung als die noch fortdauernde; und ein Christ wie Herder steht höher als Petrus. Unsere ganze Orthodoxie ist wie der Katholizismus erst in die Evangelien hinein getragen worden, und jedes Jahrhundert trägt seine neuen Ansichten hinein. Höre den alten Voß über die erste Kirchengeschichte. O könnt’ ich doch bald über mein Werk gegen das Überchristenthum! — Mit dem neuern Mönchthum wirst du dir Freuden und Kräfte und Feuer abtödten und am Ende — nichts werden. Was mich einigermaßen über deinen überchristlichen 〈ultra-christlichen〉 Trübsinn beruhigen könnte, wäre etwa, daß er eine körperliche Quelle in deinem übertriebnen Sitzen und Studieren hätte; freilich ein schwacher Trost. Einige Jahre hält es die Jugendkraft aus und du überflügelst manche um einige Jahre in Kenntnissen; aber dann kommst du wie Kapp als Scheinlebendiger, nicht als Scheintodter, zu mir zurück, und gerade in den Jahren der Vollreife, wo das Höchste errungen werden muß, im 25ten, 30ten, sitzest du bleich und geknickt vor Arzneigläsern. Gott verschone mich mit diesem Anblick!

— Die Kränklichkeit des unersetzlichen Voß ängstigt mich; grüße mir sie alle warm, die Guten ....

Nun lebe wohl, theuerer Sohn, und das neue Jahr bringe dir neue Freuden mit.


Richter
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Max Richter. Bayreuth, 25. Dezember 1820. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_132


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 8. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1955. Briefnr.: 133. Seite(n): 86-87 (Brieftext) und 354-355 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

J 1: Wahrheit 8,287×. *J 2: Max Richter Nr. 6×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 80, 82-83. A: IV. Abt., VIII, Nr. 87. 86,25 Kanne-Gießerei J 1 31 historische] so J 1, historischen J 2 87,1 Geschichte der Entstehung J 1 8f. wider sie lobte] rühmte J 1 13 Herder J 1 16 Betrachtungen J 1 22 über] an J 1

Maxens anfänglich heitere Stimmung in Heidelberg war bald in eine depressive umgeschlagen; seine Briefe ergingen sich mehr und mehr in kleinmütigen Selbstanklagen und krankhaft anmutenden religiösen Schwärmereien. Er hatte sich einem eifrigen Bibelstudium ergeben und in seinem letzten Briefe den Vater gebeten, ihm seine Gedanken über Bibelauslegung mitzuteilen: „Ich höre so vieles und Dein Urtheil ist mir das einzig wahre.“ 86, 25 Anselm Feuerbach (1798—1851), der Sohn des Kriminalisten und Vater des Malers, hatte sich 1819 als Erlanger Student unter dem Einfluß Kannes einer mystischen Theologie zugewandt und war darüber in schwere Gemütsverstimmung verfallen. Jean Paul hatte ihn in Löbichau kennengelernt (s. Persönl. Nr. 281). Er war im Herbst 1820 gleichzeitig mit Max Richter nach Heidelberg gekommen, um dort Philologie zu studieren; Max nennt ihn seinen „recht innigen Freund“; vgl. Nr. 163†. 30f. Gemeint sind Kannes „Leben und aus dem Leben merkwürdiger Christen“ (1816—17; vgl. II. Abt., IV, 310,25–29) und seine von J. P. bevorworteten „Ersten Urkunden der Geschichte“ (1808, s. I. Abt., XVI, 281). 87, 8f. Paulus lobt sich: vgl. I. Abt., I, 10, 15–17. 14 Paulus’ Kommentar zu den Evangelien: vgl. Bd. VII, Nr. 476,238, 10†; Exzerpte daraus Fasz. 2 c, Bd. 47. 29 Kapp: vgl. Nr. 318 und 379.