Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 3. September 1821.
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Mein guter Heinrich! Es war wieder nichts. Der Reisepaß lag zwar
schon im Mai da; aber als ich schon 1 Kronenthaler dem
Kutscher darauf
gegeben, kam unter
Zögerungen von fremden Seiten jenes vermischte132,5
Wetter
heran, das erst in der Mitte künftiger Woche zu blauem wird.
Ohne dieses hab’ ich im Wagen keinen Genuß. Mein Inneres braucht
jetzo viel Äusseres. Aber der Herbst mit seinen
einschrumpfenden Tagen
predigt Häuslichkeit und nur der
Frühling ruft das sehnsüchtige ver
jüngte
Herz in die Welt hinaus. Sogar nur der Morgen ist für mich132,10
Frühling; der Nachmittag aber Herbst; nun vollends dazu ein
Herbst
nachmittag auf Reisen, die
Quadratzahl jenes Gefühls. Dabei seid ihr
jetzo alle selber
auch auf Reisen. — Wie oft dacht ich schmerzlich an Max
und dich, die ihr mich doch am meisten in H[eidelberg]
liebt, und daß
wir uns alle wieder nicht sehen sollen.132,15
Laße doch meinen Max die vorige Seite lesen, da ich nichts 2
mal
schreiben kann. — Nun zum Schöneren, zum Danke für
eueren
Aristophanes. Dieser Vogelkanker umspinnt mich
eben mit seinen
glänzenden Seidenfäden und läßt mich nicht los, nicht aber
um mich
auszusaugen, sondern um mich aufzufüllen. Der
Übersetzer-Klimax geht132,20
durch Wieland, Wolf und Welker
hinauf; aber diesesmal steht den
W’s das V voran durch Sprachfülle
und lebendigen Abguß von einem
Todtengesicht. Nur der
grammatische Zynismus (mit der Übertragung
des sittlichen
versöhn’ ich mich leichter) wird bei vielen anstoßen, da das
Metrum eben so gut z. B. kaken erlaubt als das dem griechischen Worte
132,25
nachklingende deutsche; — und vollends br —. Bei den
Athenern waren
doch alle jene Wörter nur unserem p—, k—, St— ähnlich. Die
Über
tragung der Wortspiele und die
Wortnachbildungen gelingen freilich nur
unter dem — Vossischen Dache. — Deiner Noten contra
modum Mi-
nellii könnten und sollten blos
— mehre sein; in den schweren „Rittern“
132,30
zumal. Mir halfen sie unendlich, besonders über
bloße Namen; und das
Schwere und Originelle ist, daß du
immer den Aristophanes blos aus
dem Aristophanes erläuterst.
Inzwischen sind doch auch entbehrliche mit
untergelaufen,
welche ich dir, wenn ich aus dem Garten in meine Stube
zurückkomme, anmerken will. Die mir entbehrlichen sind es jedem. Aber132,35
cito, citius, citissime gebt den Kommentar, der uns
griechischen Laien
um Jahre früher nöthiger ist als die Rechtfertigung des
angenommenen
Textes. — Sage deinem guten Vater noch
einmal Dank für ein solches
133,1
Doppel-Geschenk. — (Zu meiner Freude hab’ ich noch 3
Komödien zu
lesen.)
Ich bin seit acht Monaten Mitglied der baierschen Akademie ge-
worden; aber die lateinische
Aufnahmkarte ist ein lange voraus ge133,5
druckter Frachtbrief, in welchem man die Leerräume mit zufälligen
Nachkömmlingen ausfüllt. Noch hab’ ich nicht lateinisch
gedankt,
erstlich weil ich nicht einmal das ziemlich
gemeine Latein des Frachtbriefs
in der Gewalt habe, und
zweitens weil ich nach einer so spät nach
hinkenden Ehre nichts frage, und drittens weil ein allgemeines Lob für133,10
— X 〈NN〉 zu keinem individuellen
Dankschreiben aufmuntert. —
Himmel! ist oder klingt denn
nicht jedes Doktordiplom bestimmt?
Z. B. deines für mich,
wiewol das Latein darin weit über das Münchner
hinausstieg und dein Lob meiner noch weiter über mich.
— Die wenigen entbehrlichen Noten scheinen mir zu sein: Wespen
133,15
123. — besonders 1099 — 1157 — 1352. — Acharner 698
— 702 —
Lysistrata 558 (kann ja überall nicht anders sein) — (Traun kommt in
der Lysistrata ja zu oft hintereinander) —
So wird auch einmal der Olympos als der Sitz der Götter angezeigt.
— Große Wirkung thut der Gebrauch deutscher Dialekte. —
Aber bitter-
133,20
lingshaft und jünglingshaft thut
bei mir schlechte durch das Anpichen
des S sogar an
Ableit-〈Nach-〉 sylben (wie in Gerichtsbarkeit). Noch
niemand hat meine 12 Postskripte nur gelesen, oder gar
studiert;
Grammatiker und Weiber nehmen keine Gründe an. Aber die
Zeit,
weiß ich, nimmt sie an, die Nachwelt. — Nur Köppen hat in der
133,25
Münchner L[iteratur] Zeitung im April
(denk’ ich) etwas Erträgliches
über die Doppelwörter gesagt. — Er hat auch da den Kometen
rezen-
siert und gelobt, aber ohne besondere
Gründlichkeit. Noch hab’ ich
bei deinem Wortbruche kein
gründliches Urtheil über ihn gefunden.
Leihe mir nur
wenigstens deine Blätter an Truchses, da mir ein Urtheil
133,30
über ihn jetzo, wo ich (nach Vollendung der 2ten Auflagen der grön-
ländischen Prozesse und der Mumien) den
3ten Theil fortsetze, so ab-
und zuleitend wäre. — Möge doch der 130
jährige Wein recht viel von
seinem Alter deiner trefflichen
Mutter assekuriert haben! Mir könnte
ein solcher eher davon nehmen. — In der Vorrede zur
unsichtbaren Loge
133,35
hab’ ich scharfe Worte über die jetzige
bellettristische Tobsucht-Sucht
〈Wahnsüchtelei〉 im
Tragischen und Komischen ausgesprochen und mit
Müllner und Hoffmann bewiesen. —
Ich belohne deine reichen Briefe
134,1
sehr schlecht mit so dürftigen; aber das Alter regiert in
mir, das immer
mehr sprechen und weniger schreiben will.
Meine Neuigkeiten vergess’
ich. — Übrigens hab’ ich jetzo
hier auch nicht Einen gelehrten Freund.
Du kannst Gott nicht
genug danken für das Leben deines Vaters. —
134,5
Bleibe deines so heiter als es liebend ist! Und grüße
die Deinigen und
Schwarz und Thiedemann und Paulus und Dapping. — Ach ich
hätte
nicht so viele Namen herschreiben sollen: mein armes Sehnen
kommt
wieder und der Winter stellt sich mit Eisbergen
davor.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 3. September 1821. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_207
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Landesbibl. Eutin. 6 S. 8°. (Die Unterschrift fehlt wohl nur aus Platzmangel.) K 1: Voß 3 Sept. K 2 (von Karolinens Hand): Berlin JP. J 1: Wahrheit 8,279×. J 2: Voß S. 124×. J 3: Schneider Nr. 9. B: IV. Abt., VIII, Nr. 110. 132, 4f. dem Kutscher daraufgegeben] aus auf den Kutscher aufgegeben H 5f. kam ... heran] aus wurde ... H 12 jenes Gefühls] nachtr. H 16 Laße] aus Laß H 18 Dieser Vogelkanker] aus Er H 22f. von einem Todtengesicht] aus eines Todtengesichts H 30 sein] sind H 37 um] nachtr. H nöthiger] aus nöthig H 133, 2f. die Parenthese steht am Rande der Seite H 4 acht] aus vier H 5f. ein lange voraus gedruckter] aus blos ein H 11 aufmuntert] auffodert K 19 angezeigt] davor gestr. erklärt H 25 nimmt sie an] aus wird sie schon annehmen H 31 wo] aus da H 32f. ab- und zu] nachtr. H 134,9 davor] aus dazwischen H
132,8 ff. Herbst predigt Häuslichkeit: vgl. II. Abt., IV, 111. 17ff. „ Aristofanes [übers.] von Joh. Heinr. Voß mit erläuternden Anmerkungen von Heinr. Voß“, 3 Bde., Braunschweig, Vieweg, 1821; vgl. Bd. VI, Nr. 442† (Welcker). 25 griech. Wort für kaken: χέζειν (scheißen). 26f. brunzen, pissen, kaken, Steiß. 133, 12–14 Doktordiplom: s. Wahrheit 8,95. 17 Zu Lysistrata 558 merkt Voß (a. a. O. 2. Bd., S. 276) an: „Der Markt hatte für die verschiedenen Waaren verschiedene Abtheilungen.“ 19 Olympos: a. a. O. 1. Bd., S. 218 (Wolken 271). 26 im April: vielmehr März, s. Nr. 171†.