Von Jean Paul an Caroline Richter. Dresden, 2. Mai 1822 bis 6. Mai 1822.
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166,13
Kaum ausgestiegen und kaum auf eine ½ Stunde zu Otto
gegangen
166,15
sitz’ ich schon zum Schreiben an dich Gute
nieder. Ich habe ziemlich viel
Nachwinter an mir erlebt;
was freilich die Phantasie an Genuß verlor
— fast alles
—, gewann die Philosophie an Grundsatz wieder. Der
Kutscher ist der beste und mildeste, ob er gleich schon 29 Schlachten bei
gewohnt und Kutscher des Vicekönigs
Hieronymus gewesen. Vor
166,20
12 Uhr waren wir in Münchberg, und vor 5 Uhr hier. — Anfangs zog
ich im Wagen den guten Rock über denschlechten, nachher
im Wirthshaus
umgekehrt; und morgen deckt mich noch die
Bettdecke. Morgen wird der
Himmel sich verschönern, wenn
die Gegend sich verhäßlicht. Und doch
bin ich ganz
heiter.....166,25
Gestern um 12 Uhr kam ich hier an. Aber wie viel hab ich zu erzählen
im Drange der Post. Minna
besucht’ ich um 3 Uhr und kam von ihr
erst um 7 Uhr weg, so froh war ich; — sie und ich und
Minona nennen
nun einander Du. Der gestern abwesende Mann wird mich in
diesem
166,30
Briefe (noch im Gasthofe geschrieben) stören.
Aber nun zum Anfang. In Hof fand ich die ganze Muckische
Familie. Die Muck Schubert hat
sich verschönert und sprach mit großer
Liebe von dir. — Bis Plauen Nebel und Kälte; blos in
Reichenbach
fielen beide etwas, aber die des verdammten Kutschers
stiegen schon bei167,1
dem ersten Weggeld hinter Hof. Nie fahre dieser mich je mehr. Sein
erstes Wort hinter Baireuth war:
in seiner Gegenwart hätte sein Herr
nicht so wohlfeil ackordieren dürfen. Allerdings wars zu
wenig; über
1 Carolin wird
verzettelt; und dazu das schwere Geld, für welches die167,5
gewöhnliche Rechnung 5 fl. für den Tag unbrauchbar wird. —
Sein
Brummen für jede Zahlung mußt ich ihm endlich
verweisen. Nach
Morgen- und Mittagrechnung war er
verdrießlich. Meine Freigebig
keit mit
Viktualien und jedesmaliger Bezahlung der 2 Mittel-Goutées
der Pferde half wenig. Kurz es war die ganze Löbichauer Zwei da.
167,10
Er nimmt an Menschen und Sachen — außer an Pferden und
Kriegern — keinen Antheil; und nie Gründe in einem Streite. Doch war
er mir gehorsam und pünktlich; auch sehr mäßig und
nüchtern ist er.
Viele Stunden hat mir der Gewinn von
einigen Gulden versäuert.
Ungeheuer lang bis in die Nacht
wäre die Fahrt nach Chemnitz in
167,15
1 Tage gewesen. Wir kamen in Zwickau um 6 Uhr abends an, am
andern Tage bei früher Ausfahrt erst um 11½ Uhr in Chemnitz.
Indeß war es bei mir eigner
Entschluß, da ich doch 3 mal in Gast
höfen übernachten mußte und zweitens in eine schöne Stadt gern im
Mittagglanze einfahre. „Nöthen will ichs“, sagte er; aber
ich wollte167,20
nicht in der Mitternacht erst
aussteigen. Auch dacht’ ich, wenn ich
[in]
Freiberg Nachts bliebe, Herdern
länger zu genießen, ging auch aus
2 Gründen nicht, erstlich weil wir erst um 8 Uhr da
anlangten und
zweitens weil Herder in — Leipzig war. Gestern Vormittags hatt’ ich
endlich den schönsten Himmel über der schönsten Erde und
alles glänzte167,25
um mich und fast in mir auch etwas
alter Nachschein. Schon am Sonn
abende that sich mir der Wetter-Himmel weiter auf; nur hing der
Kutscher als dicke Wolke darin.
Minna stand eben auf der Schwelle des Ausgangs. Ich
erkannte sie
nicht sogleich. Sie hat eine Kraftgestalt gewonnen; blos
Haut und167,30
Gesichtfarbe haben nicht dein
Jugendliches. Da sie alles malerisch
nimmt, bewunderte
sie sehr meinen jugendlichen Kopf, den ich nun
selber
schätze. Aber wie kann ich dir nun den Gesprächstrom, ihre Herz
lichkeit,
ihre[n] Männerblick, ihr Lieben
meiner malen. Kurz es war ein
schöner Sturm der Lust. Minona — Odilien etwas ähnlich — war eben
167,35
bei mir, damit ich alles zum Ausziehen
berichtige. Erst will ich mein im
Freien stehendes Quartier mit
M[inna] besuchen und dann diesen
Vor
mittag beziehen. — M. wird
mir das Liebste in Dresden sein, und der
168,1
Mittelpunkt der unzähligen Radien von allen Seiten
her.
Theuer ist alles. Ein Nachtlogis 14 gr.; eine Stube nur Mittags
5 gr. — 1 Mittagessen 10 gr.
Gesund bin ich; nur hab’ ich zu viel Appetit.168,5
Richard hat eine schöne Kraftnase und gefiel mir in der
kurzen
Sehzeit.
Meine liebe Emma soll das Weibchen aufstöbern und
nachsehen nach
der Eierzahl und nach Empfange dieses Briefes den
Fröschen 2 Fliegen
geben und mir mit dir schreiben und
fleißig kopieren. — Die Magd168,10
soll in meiner
Schlaf- und in der Schreibstube Mäusfallen aufstellen.
Nun will ich die letzte saure Arbeit des Reisens abthun.
Lebe wohl, meine treue Seele. Dießmal bist du immer in einem
Spiegelbilde neben mir und ich kann nicht mit Minna
reden, ohne auch
dich anzureden. Lebe froh! Grüße Emanuel und Otto! Dein
168,15
Schreibe mir immer den Wochentag unserer empfangnen und ab
geschickten Briefe.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Richter. Dresden, 2. Mai 1822 bis 6. Mai 1822. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_278
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 7⅙ S. 8°. J 1: Wahrheit 8,306× (als Anfang von Nr. 279). J 2: Nerrlich Nr. 196×. 166, 33 Muck] nachtr. verschönert] aus vergröße(rt) 167,2 hinter] aus in 15 Chemnitz] aus Freiberg 18 3 mal] davor gestr. einmal 22 Nachts] davor gestr. abends [aus Nachts] ankäme 27 Wetter] nachtr. 168,6 gefiel] aus gefällt 17 unserer] aus der
166,15 Albrecht Otto. 32f. Luise von Schubaert (s. Bd. VII, Nr. 356) hatte sich nach dem Tod ihres Mannes (s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VIII, Nr. 25) wiederverheiratet mit dem Major Ernst von Muck aus Hof. 167, 10 Löbichauer Zwei: vielleicht hatte J. P. auf der Rückfahrt von Löbichau Ähnliches erlebt; oder verwechselt er es mit der Fahrt nach Frankfurt, vgl. Bd. VII, Nr. 411,188, 10ff.? 22 Sigismund August Wolfgang von Herder (1776—1838), der zweite Sohn des Dichters, Berghauptmann in Freiberg. 35 Minona Spazier, Minnas jüngere Tochter, geb. 1801, Patenkind Jean Pauls. 168, 6 Richard Otto Spazier, geb. 1803, der spätere Biograph seines Onkels.