Von Jean Paul an Gottlieb Ernst August Mehmel. Bayreuth, 27. Mai 1823.
Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.
Höchstgeschätzter Herr Hofrath! Ich kann mir meine Erlanger Tage
— diese ruhigen, aber heitern Sabbathtage — nicht
zurückmalen, ohne
Ihr Bild und die einzelnen Bogen Ihrer
Moral — ich wünschte, ganze
225,5
moralische Alphabete brächten mir so schöne Morgen als
Sie mit Ihren
Bogen damals — in das schöne geistige
Stillleben zu bringen. Hier
schreib’ ich nun an Sie, um
vielleicht auch einem andern durch Sie zu
Erlanger Tagen zu
verhelfen.
Ich spreche vom Dr. Kapp. Seine Sylvae
Cratyli, schon aus Flug-
225,10
samen früherer Jahre
aufgegangen, sind ein Garten voll philologischer
Knospen.
Sein späteres Buch „Christus und die Weltgeschichte“ wird
Sie — so wie mich — mehr mit seinen frühen Kenntnissen und
Kräften,
mit seiner Stärke der Kombinazionen und
Übersichten ansprechen, als
mit der Aehnlichkeit, die er als
junger Mann mit der neuesten, auch in225,15
Erlangen
residierenden Zeit zu theilen scheint, welche uns statt des
Lichtes ein infusorisches Chaos von
indisch-poetisch-mystisch-über-
glaubigem Christenthum liefert. Die
jugendliche Aehnlichkeit wird ver-
fliegen, aber dafür ein reifer,
vielgewandter, religiöser Geist zurück
bleiben, nach der
Dephlegmatisazion der Zeit.225,20
Sein frommes Gemüth, seine kindliche Bescheidenheit, sein religiöses
Streben nach dem Höchsten in Glauben und Lernen spricht sich
fast
bei seine ersten Erscheinung aus; und ein Theil
seines geistigen Werths
sich leider durch das, was der
Körper dazu heropfern mußte. Denn der
Baum des Erkenntnisses
wurde eine parasitische aussaugende Pflanze225,25
seines
Nervensystems.
Nun kommt es — nach allem was ich höre — auf Ihre Stimme an,
vortrefflicher, das Gute auch außerhalb des Landtagsaals im Lehrsaal
beschirmender Mann, ob der Jüngling seine Heilung in der
Lehrthätig
keit und alle Früchte der
mühsamen Jugendsaat endlich finden soll im —225,30
Professorkatheder.
Ihrer Einsicht brauch’ ich nichts weiter zu sagen und abzuverlangen,
und Ihrem Herzen noch weniger. Leben Sie recht wohl!
ergebenster225,35
Jean Paul Fr. Richter
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Gottlieb Ernst August Mehmel. Bayreuth, 27. Mai 1823. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_379
Kommentar (der gedruckten Ausgabe)
SiglenH: ehem. Hermann Kiewy, Hamburg. 4 S. 8º. K (von Karolinens Hand): Mehmel! den 27ten Mai 1823. i: Beilage zur Leipziger Zeitung, 15. Dez.1881, Nr. 100. 225,5 ganze] aus andere H 14 Übersichten] Ansichten K 16 welche] aus die H 18 gläubigem K 24 heropfern] opfern K
Während seines Aufenthalts in Erlangen im Juni 1811 hatte J. P.einzelne Bogen von Mehmels damals im Druck befindlichem „Lehrbuchder Sittenlehre“ zu lesen bekommen; vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), VI, Nr. 131. 225,10ff. Kapp: vgl. Nr. 318†; seine Schrift „Christus und die Weltgeschichte, oderSokrates und die Wissenschaft“ erschien anonym 1823 im Verlag Mohr& Zimmer in Heidelberg; das „infusorische Chaos“ war in Erlangen durchKanne vertreten. Vgl. 232,16–19. — Kapp habilitierte sich 1823 in Er- langen, wurde dort 1824 a. o. Professor der Philosophie, gab aber 1833sein Amt auf.