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Korrespondenz

Von Jean Paul an Caroline Richter. Nürnberg, 2. September 1823 bis 4. September 1823.

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234,13
Dienstag Vormittags.
Nürnberg den 2ten Sept. 1823

Dein theueres Briefchen, meine geliebte Karoline, hab ich gestern234,15
am Mittagtische erhalten — du meines gestern am Morgen —;
und deine Antwort darauf wird hoff ich morgen ankommen. Ich bleibe
in meinem recht schönen Gasthofquartier, aus Ekel an Umziehen und
Probieren. Der mir schon seit vielen Jahren ergebene Auerheimer,
dessen Charakter alle Welt lobt, versprach mir billige Rücksicht in234,20
seiner künftigen Rechnung; und ich reise denn erst künftige Woche.
Die Hauptschwierigkeit des Schickens — da ein Lohnbedienter täglich
1 fl. verlangt und die Leute im Gasthofe nicht zu den vielen kleinen
Gängen berufen sind — wurde mir durch den im Gasthofe mit seinem
Buchladen einquartierten höchst gefälligen Buchhändler Eichhorn 234,25
gehoben, der mir seinen Diener wie seine Bücher zu jeder Stunde leiht.
Mittags um 12½ Uhr und abends um 8¼ ess’ ich unten; habe Morgen
sonne, das kunstgerechte Bett, kein Kopf-, kein Herz- und Unterleibübel,
zu viel Appetit und gar keine Mozion, ausgenommen gestern den kurzen
Gang ins Museum. Das hiesige, obwol schwächere Bier ist mir 234,30
ordentliche Arzenei. Ich habe noch über ein ⅓ meines Weins, weil ich
noch zu keinen Arbeiten gekommen. Dr Osterhausen, bei dem ich
meine Karte zurück gelassen, hat mich noch nicht besucht; der seit langen
gegen mich erkältete van Hoven ohnehin nicht. An der Wirthstafel
sucht immer ein anderer Nachbar neben mich zu kommen... Gerade235,1
hier unterbrach mich nach dem so gefälligen Lechner — bei [dem] ich ein
Logis haben könnte, wär’ es nicht zu entlegen — der freundliche alt
redliche Osterhausen in seinem verschabten Überrock, der schon einmal
vergeblich nach mir dagewesen. Abends geht er um 5 Uhr (der gewöhn235,5
lichen Ausgehzeit der Nürnberger) in den sogenannten Rollleders
Garten, ein Lustort ¼ Stunde weit.


Abends

Mit dem verschabten Rock führte er mich dahin — viel Matronen —
Musik — einige alte und neue Bekan[n]tschaften — z. B. Graf Soden, 235,10
Binder, welcher letzte eine Wohnung mir verschafft hätte, so wie
Osterhausen mir eine in seinem großen Hause anbot. Jetzo aber mag
ich von meinem guten Auerheimer, der jeden Wunsch von mir erfüllt,
nicht mehr weg, zumal da ich in künftiger Woche mein unnützes Hier
sein ende. Hier gibt es leider keine ausgezeichneten Köpfe, nicht einmal235,15
unter Männern. Das vorige mal hatt ich Schweigger, Pfaff, Hegel
etc. etc. Auch wußt ich dieß alles voraus und die Herrschaft des Kaufmanns
und die Kälte gegen Philosophie und Dichtkunst und den Mangel an
Gegenden und den tiefen Kopfstand der Weiber, die immer nur mit sich
umgehen und an deren Köpfen selten Gesichter sind wie man sie im235,20
Weldenschen Theetanz zu Duzenden antrifft. — Dieß alles wußt’ ich
voraus — und wollte daher auch ein Paar mal gar zu Hause bleiben
und war allemal froh, wenn das Wetter etwas schlechter wurde —,
aber meine närrische phantastische Natur hielt mir immer den herrlichen
Glanzmorgen vor die Nase, wo ich von Anspach durch die Anlagen 235,25
fuhr, an denen ich mir dummer Weise ein Abendsonnenquartier (d. h.
¾ Stunden weit von der innern Stadt) miethen wollte; und am meisten
stieß mich der Gedanke hieher, daß ich mir doch recht einkaufen könnte,
nämlich —— Federn, Papier und Bleistifte. Auch Graves-Weine
wollt’ ich hier versuchen, es soll aber kein Tropfen davon zu haben sein.235,30
Das Theater ist mittelmäßig. Keine Straße ist so breit und lang wie die
Friedrichstraße; alles ist ein Gassengedärm, durch das man sich wie ein
Stück verdautes Fleisch mit hundert Fragen windet. Seebeck hatte
schon Recht. In meinem Münchner Tagebuch mach ich die leeren
Blätter zum Nürnberger; aber Himmel, welche Mittag- und Abend- 235,35
feste und Menschen (z. B. Sömmering etc. etc.) hatt’ ich dort fast un-
ausgesetzt! —


Ich will auf der andern Seite alle meine Wünsche hinter einander236,1
schreiben, damit du sie weniger übersiehst.


Wünsche

Lasse von meinen Fenstern den ewigen Schmutz abkratzen.


Lasse ein Fäßchen Arnolds Bier (aber von meinem Bruder zu be- 236,5
sorgen) wieder füllen und vorher allen alten Bier-Unrath wegschaffen;
und dann soll Weig auf einmal alle Krüge säubern, weil sie für die Länge
des Winterbiers nicht säuern sollen.


Gieße doch in die Klebdinte, die alles zweimal unleserlich abdruckt,
dünne aus dem Kruge.236,10

Odilie soll die Frösche ja nicht in die Sonne setzen.

Erkundige dich für die nächste Woche nach einem Kutscher mit guten
Pferden, die mir immer lieber sind als die wohlfeilsten Esel.


Zum Abendessen der Ankunft will ich, weil die Bewegung des Herzens
die des Magens stört, nur Suppe und Sallat (wie ichs hier nicht haben236,15
kann) und nichts Gebratenes.


Auch die Betten dürfen sich am Ankunfttage nicht wieder sonnen;
sie hatten Zeit genug dazu.


Mittwochs
den 3. Sept.
236,20

Geliebte! Dein Montags Briefchen bekam ich heute und sah daraus
deine Liebe und deine Noth. Diese Blätter wirst du am Sonnabend
bekommen; und dann am Montage meine letzten, wo ich dir den Tag
des Abholens bestimmen werde.


Durch das Nicht-Außerhausessen wird mein Aufenthalt doch theuer236,25
werden. Übrigens sind die Leute alle wohlmeinend und gefällig. Heute
nahm mich der Buchhändler Eichhorn in den Bleicher-Garten (wieder
¼ Stunde weit, Musik, 5 Uhr und Bier) aber dort war es unbedeutender;
morgen hingegen auf dem Hahnenbergzwinger, wohin mich Oster-
hausen führen will, ist es gedrängter und erlesener, aber freilich immer236,30
das alte aufgewärmte Sauerkraut. — Ich will mit Baireuter Fuhr-
werk blos von Erlangen wegfahren, weil ein so frühes Aufstehen im
Herbst, um von hier in 1 Tage anzukommen, ein zu plagendes Ende
meiner freudendürftigen Reise wäre (Himmel, wie hätt’ ich diese blauen
Tage in Dresden oder Kreuzenach[!] verleben wollen!) Wahrlich dich 236,35
könnte ich hier zu nichts führen; in die Kirchen blos der Lohndiener. Die
Häuser und Gassen gäben dir keinen Genuß. Willst aber du oder Emma 237,1
im Wagen nach Erlangen mit: so gescheh’ es, doch nur von Einer, denn
es ist wegen des vielen Gepäcks durchaus kein Platz für drei. Mit Lich
tern, die nicht besser sind, als die Höfer, könnt’ ich mich nicht beschmutzen.
Über Steingut wüßt’ ich weder aus noch ein. Nicht einmal Viktualien237,5
nehm’ ich mit von hier. Der einfältigen Elisabeth kaufe in Baireut die
Strümpfe. Hingegen bei der Leinwand bestimme mir Preis, Ellenzahl
und Güte, so will ich dazu eine Nürnbergerin aufgabeln, die den Jammer
kauft; — recht gern. Ein Thermometer kauf’ ich mir bei Bestelmaier
etc. etc. — Glaube nur nicht, daß ich etwa trostlos bin und gar nach237,10
meinem Leben trachte; ich jubiliere vielmehr und könnte den ganzen
Tag hier neben meinem Hund versitzen. Was mir freilich noch be
sonders gefällt, ist mein Körper, nicht mein schöner, sondern mein
gesunder, der unglaublich diniert und soupiert und nirgends schmerzt,
obgleich die Kost nicht so gut ist wie in Dresden, Stuttgart etc. etc. Der 237,15
gefällige Eichhorn wollte mich Freitags in die Harmonie zu einem
Abendessen mit einigen haben; ich konnt’ es aber durch den Gang in den
Zwinger zum Glücke ausschlagen. — Der Zeitungschreiber 〈Korre-
spondent〉 Coremans, ein Niederländer, gefällt mir durch seine Kennt-
nisse und ist mein Tischnachbar.


Donnerstag.

Nicht die Hälfte meiner Wäsche brauchte ich. — — — Ich will aber
doch lieber das lange Geschreibe beschließen, ob gleich erst Morgen der
Brief abgeht. Ich war wie gewöhnlich, den ganzen Tag allein (nur der
redliche Osterhausen kam und ein Prof. aus Kiel, Wachsmuth) und 237,25
unterbreche die Einsamkeit nur durch das Essen an der Wirthstafel. —
Du gute Seele hast gar zu viele Viktualien für mich eingescheuert.
Nenne mir jedoch einige kleine, die ich hier kaufen könnte. Meine gute
Emma hat mich wahrhaft erquickt durch ihren Brief voll schöner Ge-
danken, obwol unleserlicher Buchstaben. Odilia soll mir auch ein Herzens 237,30
Wörtchen schreiben. Wie freu’ ich mich auf unser aller nächstes Zu
sammenleben, das ich recht mit Liebe genießen will nach der Büßung
meiner Reiselust und bei der Kürze meiner abnehmenden Lebens Tage. —
Grüße recht meine edle Welden, und deine wahren Freundinnen Stein
und Dobeneck und die geheime Räthin. Und lebe du recht wohl, recht 237,35
wohl, Geliebte!

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Caroline Richter. Nürnberg, 2. September 1823 bis 4. September 1823. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_393


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 8. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1955. Briefnr.: 397. Seite(n): 234-237 (Brieftext) und 406-407 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 6 S. 4º. J 1: Wahrheit 8,328× (mit Einschub nicht hergehöriger Stellen, wahrscheinlich aus dem Reisetagebuch). J 2: Nerrlich Nr. 203×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 260 und 262. A: IV. Abt., VIII, Nr. 263. 234,18 recht] aus rechten 24 berufen sind] aus taugen 31 über ein] nachtr. 33 seit langen] aus ohnehin 34 Hoven] aus Hofen 235,30 kein Tropfen davon] aus keiner 236,27 Bleicher] aus Teich 237,6 nehm’] davor gestr. kauf’ 7 Preis] aus Werth 10 gar] aus etwan

234, 32 Osterhausen: vgl. Bd. VII, Nr. 227†. 34 van Hoven: vgl. Bd. VI, Nr. 650,274, 6. 235, 10 Graf Soden: vgl. Bd. VI, Nr. 493,200, 18†; er lebte seit 1813 in Nürnberg. 11 Binder: wohl Jakob Friedrich (1787—1856), der spätere Bürgermeister von Nürnberg. 16 Pfaff: vgl. Bd. VI, Nr. 722,310, 16†. 235, 25 von Anspach: wohl auf der Rückreise von Heidelberg oder Stuttgart. 32 Friedrichstraße: in Bayreuth, in der J. P. wohnte. 236, 7 Weig: vgl. Bd. VI, Nr. 20,8, 14†. 35ff. Karoline hatte geschrieben, sie möchte ihn gern abholen und in Nürnberg Teller, Gläser und Lichter einkaufen. 237, 25 Ernst W. Wachsmuth (1787—1866), Prof. der alten und neuen Sprachen in Kiel (Allg. D. Biogr. 40,423). 34 Stein: Stiftsdame, Tante der Gräfin Henckel von Donnersmark in Weimar. 35 geheime Räthin: wohl Frau von der Kettenburg, s. Nr. 492† und Persönl. Nr. 321, S. 315.