Von Jean Paul an Friedrich Gottlob Wetzel. Bayreuth, 16. Juli 1816.
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Meinen Dank für Ihr Schauspiel muß ich mit der Bitte um
Verzeihung des langen Behaltens anfangen. Denken Sie sich
die
Sommer- und zugleich meine Arbeittage: so bin ich
entschuldigt.
Legen Sie wenigen Werth auf mein Urtheil, das eigentlich nur74,20
eine Empfindung ist, da das Drama weit von meinen Anlagen
und
Kenntnissen abliegt.
Zu loben ist an Ihrem Werke leicht; — z. B. der ungekünstelte,
leichte Sprach- und Versbau — der ungezwungene Auseinandergang
der Geschichte — die Darstellung mancher zusammengesetzten
Hand74,25
lung, z. B. S. 57 — sogar
Ihr Scarron, den ich nicht ganz heraus-
wünschte, wie Ihre Abkürzungen — Ihr
lyrisches Feuer an so vielen
Stellen — und das Schönste, das
Sterben der Heldin, besonders
die Erscheinung der
Pilgerin.
Darum aber sind die nachherigen Engel und das Glänzen, so wie74,30
später die erst andern Geschichten abgeborgte Taube, sammt
Cranmer’s unversehrtem Herzen, Überladungen. Das einzige
eiserne Kreuz auf der Bühne muß die Phantasie ächt
tragisch
ergreifen.
So überbietet die Zeile „er wirds wol machen“ S. 119 die längsten75,1
Reden der Heldin. An diesen eben stieß ich mich fast überall;
fast
überall spricht (auch hinter Ihren spätern
Abbreviaturen) Jeanne
viel zu lang — und viel zu lang sind
alle Unterredungen der Fürsten
und ihrer Leute, welche eine
öffentliche Aufführung sehr erschweren75,5
oder ihrer
Wirkung berauben. Auch kommt die Handlung mehr
immer nur als
vergangen denn als geschehend vor die Seele. Den
Nachtheil des
vielen Erzählens müssen Sie durch Abkürzungen
wenigstens
mindern. Gegen das Ende hin wächst von selber das
Interesse;
um so mehr ist dem Anfange durch forteilende Kürze75,10
eines zu geben.
Zu einzelnem Lobe und Tadel fehlt mir Zeit und Recht. Wenig
stens hab’ ich, so gut ich gekonnt, hier Ihren Wunsch
erfüllt.
Ihr poetischer Genius bleibe Ihnen immer nahe und reiche
Ihnen seine Blumen und Früchte in so manchen Wüsten des Lebens!75,15
Ihr
ergebenster
Jean Paul Fr. Richter
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Gottlob Wetzel. Bayreuth, 16. Juli 1816. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_200
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: D. Wetzel Bamberg 15 [aus 16 oder umgekehrt] Jul. * J: Z. Funck, Aus dem Leben zweier Dichter (1836), S. 248. 74,32 Cramner’s J
Friedrich Gottlob Wetzel (1779—1819), der Verfasser der stark von Jean Paul beeinflußten „Nachtwachen von Bonaventura“, hatte ihn Ende 1813 in Bayreuth besucht und ihm später das Manuskript seiner Tragödie „Jeanne d’Arc“ (gedruckt 1817) mit der Bitte um schärfste Beurteilung zugesandt. Nach Kunz hat er Jean Pauls Be merkungen weitgehend berücksichtigt; so hat er z. B. die Engel bei Johannas Feuertode beseitigt, die Taube und das unversehrte Herz aber beibehalten (S. 187 des Drucks). 74, 26 Scarron: der lustige Rat des Königs von Frankreich. 29 Pilgerin: die hl. Katharina, die der Jungfrau im Gefängnis erscheint. 32 Cranmer: auch sein Herz soll auf dem Scheiterhaufen (1556) unverbrannt geblieben sein, vgl. I. Abt., VI, 420, 20—22. 75, 1 „ er wirds wol machen“: Johannas Antwort auf den sie zum Feuertode verdammenden Richterspruch (S. 175 des Drucks).