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Korrespondenz

Von Jean Paul an Emanuel Osmund und Christian Otto. Regensburg, 21. August 1816 bis 22. August 1816.

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Citis sime!
Regensburg d. 21. Aug. 1816 [Mittwoch]
78,26

Ihr lieben zwei Guten! Ich hatte mir zwar einiges Gute voraus
gedacht, doch nicht so vieles. Sogar der Weg nach Regensburg
war nicht so leer als ihn der alles ausleerende F ... mir vorgemalt;
aber vollends auf die Höhe von Schwandorf zu kommen und im 78,30
Mittaglichte den fernen Höhenzirkel und alles Dörfer-Blühende
unter sich zu sehen! — Aber ich kann nicht chronologisch beschreiben.
Die Hauptsache bleibt der Fürst Primas. Ein langer, etwas vor- 79,1
gebogener Mann mit einem Kraftprofil, zumal der Nase — nur
das linke Auge immer aus Schwäche schließend — übrigens im
Reden wie in allem mehr Gelehrter als Fürst. Am ersten Tag von
11 bis 12 — wo er nach meiner Frau fragte (Abends nimmt er 79,5
niemand an) — und bei dem Mittagessen — wo er ihre Gesundheit
trank — bis Abends, wo er mich zum preußischen Gesandten Grafen
Goerz brachte, war unsere Bekanntschaft so entschieden, daß ich seit
Herders Tode das erste Gastmal dieser Art genossen. Nie hatt’ ich
in so kurzer Zeit einen Fürsten nur ⅛ so lieb gewonnen. Seitdem79,10
geht jeden Tag pünktlich um 6 Uhr die Landkutsche oder Journaliere
von ihm ab nach dem Gasthof zum goldnen Kreuze und bringt mich
nach 7¾ Uhr wieder zurück. So sitzen wir beide oft bis ins Dunkle
bei einer nur halb austropfenden Weinflasche und die Gespräche
sind über Religion — Physik — Philosophie — und alles Wissen79,15
schaftliche. Im Glauben und Streben ist er ein Geistlicher im
würdigsten Wortes Sinn. Wissenschaftliche Gespräche lassen kaum
politischen oder individuellen Platz; gleichwol entdeckt er mir offen
die Irrwege seiner Jugend, kurz hundert Dinge, die ich nur mündlich
euch, Otto und Emanuel, erzählen kann. — Sein Arbeittag hat79,20
10 Stunden, und er zeigte mir selber den Zettel, wo um 7 Uhr der
beifolgende Brief an mich als Arbeit vorkam — 2 Stunden lieset
er Akten — 2 Stunden arbeitet er an seinem Werke über den
„Christianisme“ u.s.w. Nach geistiger Erschöpfung sei ihm, sagt
er, Beten Wiederstärkung. Seine Grundsätze sind die der höchsten79,25
Anbetung Gottes und der Selbdemüthigung. Gegen mein Unter
stellen Christi unter Gott sagte er — blos sanft: Nein! — Er verlangt
meine Urtheile und that die große Frage des Pilatus an mich:
Was ist Wahrheit? Meine nicht leichte Antwort befriedigte ihn;
aber ihr sollt sie — hören. — Ich schone den guten alten Mann79,30
von 74 Jahren im Disputieren. Bei der ersten Malzeit, wo nur
Gelehrte waren, nannte er mich wegen des Kampfes mit dem astro
nomischen Professor Placidus über das Verhältnis der Philosophie
zur Mathematik den Negazionrath; eine Würde, die ein Ehemann
schon vorher von seiner Gattin erhält und mitbringt. Auf die Ge- 79,35
sundheit meiner Kinder trank er gestern in der Abendaurorastunde,
da ich von ihnen erzählen müssen. Er fragte mich, ob mir Oertel
gesagt, daß er für meine Frau etwas nach meinem Abfahren aus- 80,1
setzen werde, wenn er die 200 000 fl., die der Kongreß ihm, ohne
Untersuchung auszahlbar, bestimmt, bekomme etc. Auch sprach er
von seinem Testament — ich weiß nicht, sagte er, er mach’ es oder
hab’ es gemacht —, worin seine Freunde vorkommen und ich mit.80,5
Ein großes französisches Werk (es ist die Palingenesie seines frühern
kleinern über das Universum), worin er die Körperwelt, dann die
moralische, dann die himmlische behandelt, hab’ ich von ihm in der
Handschrift; und jeden Abend bring’ ich meine Bemerkungen, deren
Tadel er gern annimmt .... Der Bediente kommt eben und sagt,80,10
der Wagen sei gekommen. Eiligst etwas zu schreiben, ist für mich
viel langweiliger als ruhig auseinander stellend. Gebt daher diesen
Brief meiner C[aroline], da ich unmöglich ...

d. 22. Aug.

dieselben Historien wieder erzählen kann. — Ich schicke ihr80,15
lieber den Brief eröffnet. Nimm es nur nicht übel, Otto, daß
einmal ein Brief an dich in meinem Hause gelesen wird. — Auch
bei der jetzo abgereiseten Fürstin hab’ ich gegessen, so wie
bei dem trefflichen ruhigen, feinen, ehrwürdigen Grafen Goerz.
Bei jener trug mich der Aufschreiber der Tischgäste unter dem80,20
Namen John Bull ein, was eine artige Satire wäre, wenn es nicht
Unwissenheit wäre. — Eine Stazion vor Regensburg hindurch fand
ich eine Menge schöner Weiber. — Gestern nach der Abendstunde
fuhr der Primas mit mir zum Goerz, und um 8 Uhr zum Grafen
Westerhold, einem Freunde Lavaters, der wegen seiner Arbeiten 80,25
und seiner 10jährigen Gicht niemand früher annimmt. Kommt man
in seine Stube, so ist man schon vor Jahren da gewesen. Denkt
euch einen Tisch mit einer besondern Lampe, die ich nicht zu nennen
weiß, ihn oben daran, auf dem Kanapee seine milde Frau, der Fürst
neben ihr, ihr gegenüber die älteste Tochter, die eben, ungeachtet 80,30
des Primas, des täglichen Gastes, im Federnschneiden fortfuhr für
zwei kleinere Schwestern, welche an einem fernen Tischen ihre
Arbeiten für ihren Lehrer niederschrieben; und den großen Arbeit
tisch des Grafen an einem andern Kanapee. Eine solche himmlische
heimliche Häuslichkeit sah ich noch in keiner Stube von Adel. Auch81,1
waren wir alle seelig, besonders der Fürst und die Eltern, und ich
war ein alter ausgedienter Pudel, ders auf seinem Stuhle gut hatte.
— Blos da wurde Thee mit Rack und nachher wahrer (Erz-)Bischoff
gegeben. Abendessen und Thees wie bei uns sind hier ungewöhnlich.81,5
Goerz gibt um 7—8 den Männern kahlen Thee, keinen Tropfen und
Bissen weiter; nach 8 sah ich den Zug von Spielern und noch
mehren Spielerinnen kommen, welche außer Karten und Stühlen
nichts erhalten.


Allerdings werfen alle diese Gestalten und Sachen auch ihre81,10
kurzen und langen Schatten; diese will ich aber nicht auf diesem
Post-Papier auffangen, sondern in Emanuels Stube. — Das erste
mal ausgenommen, komm’ ich immerfort in Stiefeln; (sogar bei
der Taxis sah ich einige Stiefel). Ihr seht, zu welcher Kühnheit ein
Welden einen an sich stillen Mann wie ich bildet; man sagt zu sich: 81,15
„wagtest du einmal, zweimal bei dem Kommissarius eines ganzen
Kreises gestiefelt aufzutreten, warum nicht noch mehr bei bloßen
Fürsten und Gesandten?“


Ich wollte, der hiesige Gelehrtenstand wäre bedeutender. — Die
Gassen sind hier so breit, daß in einer, welche die breite heißt, eine 81,20
Kutsche nicht eher umkehren kann, als bis sie in eine andere gefahren
ist. — Nie war ich so gemäßigt im Sprechen (wenige Sprüche aus
genommen) als hier; — Oertel ist mein Zeuge und Wächter; und
im Trinken bin ichs vollends zum Verwundern. — Den 4. September
reis’ ich ab; das schöne Herbstwetter weiß ich so gewiß voraus, als81,25
ich Montags in Baireuth sagte: erst Donnerstags donnerts in
Regensburg. Gerade die Güte des Fürsten kürzet mein Bleiben um
eine Woche ab. — Sie, mein lieber Emanuel, hätten also wol noch
Zeit — und Stoff noch mehr — mir hieher etwas zu schreiben.
Auch du, Otto, solltest mir wenigstens in einem Billet antworten,81,30
wenn ich zurück bin. Verzeiht also die wahrhafte Schmiererei der
Eile; man könnte sich bald verderben und verwöhnen, wenn man
öfter so fliegend schriebe ohne Flug. Lebt recht froh, meine guten
Menschen!


Richter
81,35
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Emanuel Osmund und Christian Otto. Regensburg, 21. August 1816 bis 22. August 1816. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_212


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 212. Seite(n): 78-81 (Brieftext) und 363-364 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

J 1: Wahrheit 8, 64. (Danach Nerrlich Nr. 138.) *J 2: Denkw. 1, 272. A: IV. Abt., VII, Nr. 38. 78, 26 Citissime!] fehlt J 1 79, 1f. verbogener J 1 13 ¾] fehlt J 1 34 Negationrath J 1 , Negationsrath J 2 80,2 fl.] Fl. J 1, rhein. J 2 6f. die Parenthese steht nach 5 mit J 1 seines] eines J 1 7 kleinern] kleinen J 1 25 die Fußnote steht im Text nach 34 andern J 1 31 Federschneiden J 1 34 Kanapee] fehlt J 1 81,6 Tropfen und] so J 1, fehlt J 2 7 8] so J 1 , 8 Uhr J 2 8 mehren] so J 1 , mehrere J 2 15 ich] danach bin, J 1 (unnötige Konjektur, vgl. z. B. I. Abt., IV, 325, 33, VIII, 96, 28) 26 Montag J 1 der Donnerstag donnert J 1 31 die] so J 1, fehlt J 2

78,29 Vielleicht Fischer, vgl. Nr. 460. 79, 7f. Johann Eustach Graf von Schlitz, genannt Goertz (1737—1821). 22 beifolgende Brief: an J. P. IV. Abt., VII, Nr. 36. 23f. Das Werk ist nicht erschienen, da Dalberg schon bald starb. 33 P. Placidus, ehemaliger Benedektiner von St. Emeran (gest. 1825), Mathematiker und Astronom. 80, 4 Testament: J 1 hat hier die Fußnote: „Fürst Primas starb bekanntlich plötzlich und ohne Testament, so daß seine obenausgesprochnen frommen Absichten mit andern unerfüllt blieben.“ 7 „Betrachtungen über das Universum“, Erfurt 1777; vgl. Bd. VI, Nr. 446, 178, 15. 16f. Ironische Anspielung auf die Zurückhaltung, die Otto — im Gegensatz zu Jean Paul — mit Briefen an ihn übte; vgl. auch 81, 30f. 21 John Bull: vgl. I. Abt., XV, 168, 13. 25 Alexander Ferd. Anton Graf Westerhold, fürstl. Thurn- u. Taxischer Geh. Rat.