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Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 22. November 1816 bis 23. November 1816.

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Eiligst aus Verspätung
Baireuth d. 22ten Nov. 1816

Länger will ich nicht sündigen, sondern antworten. Ihr Holo fernes im Morgenblatt war neulich schon meine Judith und setzte meinen Kopf zurecht und an den Schreibtisch — und doch dank’ ich Ihnen für Ihr Geschenk an mich und an die Welt erst heute. (Meine einzige Entschuldigung, daß ich Ihnen so spät antworte, ist blos die, daß ich andern gar nicht antworte, weil ich entweder lange oder keine Briefe schreiben will, so wie lieber Bücher als Taschenbüchleintheilchen.)

Die Weiber von Windsor, die mir in so verschiedenen Kleidungen gefallen, haben mich in der Ihrigen am höchsten ergötzt; denn der ganze Lear ist leichter zu übersetzen als z. B. der französische Doktor so wie der Schulmeister Holofernes. Darauf kam von einer andern schönen Seite die Cleopatra.

Das Übersetzen muß ein Feen-Angebinde Ihrer Familie sein. Daher freu’ ich mich unbeschreiblich auf den Voßischen Aristo phanes. Der von Welcker ist mir nicht nur lieber als der von Wieland, sondern sogar als der von Wolf (drei W’s, die ein V oder von brauchen); denn Wolf vergaß, daß zum Übersetzen mehr als Eine Sprache gehöre, nämlich durchaus zwei Sprachen. Und diese zweite, nämlich die deutsche, hat ihren Sprachschatz als Mitgift dem Dichter ächtdeutscher Idyllen und dem Übersetzer des Homers und Ovids gegeben. Er sei hier von mir gegrüßt, dieser sprachreiche Übersetzer, welcher (zufolge einer Probe im Morgenblatte) anders und höher als Adelung und Campe den ganzen verzauberten deut schen Sprachschatz heben könnte. Möchte er wollen oder fortwollen!

d. 23ten Nov.

Um Ihnen weiter zu antworten: Fouqué (unsern Schlachten= Ariost) brauch’ und vermag ich nicht mehr zu rezensieren; die Welt und seine Werke thun es statt meiner, auch eine gewisse Einförmigkeit in diesen. Dramatisch prägt er sich heller und glänzender aus, nämlich kürzer, als episch. Eine Rezension kostet mir mehr Mühe als manchem Autor sein dickes Buch, da sie kein Flugurtheil am Theetisch sein soll, sondern eine ästhetische Ergründung und Dar stellung des ganzen Menschen und Buchs zugleich. Als ich Md. Stael rezensiert hatte, war mir ordentlich, als hätt’ ich sie geheirathet, so oft hatt’ ich sie lesen müssen. — Bitten Sie die Buchhandlung, mir die Jahrbücher nicht mehr zu schenken, da ich sie ohnehin hier mehr mal zum Lesen vorfinde.

Was mich an diesem Briefe am meisten erfreuet, ist die Anzeige, daß ich im Frühling einen zweiten schreiben werde, um durch ihn mir eine Monatwohnung in Heidelberg zu erbitten. Mein ganzes Herz sehnt und drängt sich nach diesem Augen-Eden. Ich grüße hier alle Ihrige und Schwarz und Fr. v. Ende, will aber im Frühlinge noch mehre grüßen, z. B. Helmine, die Topographin des Eden.


Ihr Jean Paul Fr. Richter

Auch meine Frau grüßt die Fr. v. Ende. Mit einem Ablaß briefe werden Sie mir eine Freude machen.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 22. November 1816 bis 23. November 1816. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_236


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 236. Seite(n): 92-93 (Brieftext) und 367-369 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Bayer. Staatsbibl. 4 S. 4°. K 1 (Konzept, vor Nr. 234): Heinrich Voß. K 2: Heinrich Voß 22 Nov. i: Wahrheit 8, 76. J: Petzet Nr. 1. 92,20 aus] davor gestr. nach dem H 23 Schreibetisch K 2 28 Taschenbüchleintheilchen] aus Taschenbücherpartikelchen H 29 Kleidungen] aus Kleidern H 32 so wie] aus oder H 93,1 Ihrer] für Ihre K 2 9 Ovids] Virgils K 2 sei ... gegrüßt] soll ... gegrüßt sein H 15 Aristo K 2 17 diesen] aus ihnen H 20 Thée tisch] danach oder unterwegs, ein Herzenserguß K 1 26 an] aus in H die Anzeige] fehlt K 1, nachtr. H 27 Frühling] verb. in Vorfrühling K 1 28 eine Monatwohnung] auf 4 Wochen eine Studentenwohnung K 1 erbitten] bestellen K 1. — K 1 hat noch folgende abweichenden oder ergänzenden Sätze: Nicht die Judith sondern Ihr Holofernes im Morgenblatt hat mir den Kopf wieder zurecht gesetzt und mir meine stummen Sünden im Brief schweigen [aus Briefschreiben] vorgehalten, welche ich besonders gegen Sie als den Schriftsteller und Geber begangen. Nichts schreib ich lieber und leichter als Briefe; und doch nichts seltener. Ich kann Ihnen nicht ausdrücken, wie sehr die Weiber von Windsor, so oft sie mich auch ergötzt, [mich] von neuen erfreuet in einer so kunst- und sinnreichen Erneuerung; und darauf die Kleopatra, obwol in anderm Stil. Das Übersetzen scheint in Ihrer Familie erblich zu sein. Kaum erwarten kann ich daher den Aristophanes von der wahren Adlerfeder, welche römische und griechische Flügel nöthig hatten, um in unsern Norden zu fliegen. Welcker sogar ist mir lieber als Wolf; und über diesen siegt die deutsche Sprachfülle und Sprachkunde Ihres Vaters, — welcher wol den Deutschen nach den Proben im Morgenblatt, zumal mit seinen Söhnen in Gütergemeinschaft, den lexikalischen Sprachschatz könnte heben. (Wer so viel gab wie er damals, braucht gewiß nicht viele Jahre mehr, um alles zu geben.) Seine damaligen Bruchstücke setzen wenige Lücken voraus... So lebt ich nach meiner Weise 4 Wochen in Erlangen p. und in diesem Jahr in R[egensburg] , das ich freilich als eine ½ Entschuldigung meines Schweigens oben hätte anführen können... (Ich wünschte wol zu wissen, wie ein großer Sprachvertrauter [aus Sprachkenner] über die S in den Sammwörtern denkt.) Eher [als Fouqué] Isidorus [vgl. 226,5 ] wäre zu rezensieren.

Jean Pauls Briefwechsel mit Heinrich Voß wurde 1833 mit starken Kürzungen von Heinrichs Bruder Abraham veröffentlicht. Von J. P.s Originalbriefen befindet sich ein Teil in der Landesbibliothek Eutin, ein anderer in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, einzelne sind verstreut. Im Nachlaß Jean Pauls fanden sich außer den eigenhändigen Kopien in den Briefkopierbüchern noch Abschriften von Karolinens Hand, die erst nach Vossens und Jean Pauls Tode hergestellt wurden (Karoline hatte sich damals die Briefe vorübergehend von Ernestine ausgeliehen). Nach diesen Abschriften hat Ferd. Jos. Schneider 12 Briefe als Anhang zu seiner Schrift „Jean Pauls Altersdichtung“ (1901) veröffentlicht. Die in München vorhandenen 7 Briefe hat Erich Petzet 1903 in den Blättern für Gymnasialschulwesen, 39. Bd., publiziert. Von Vossens zahlreichen, meist sehr ausführlichen Briefen an Jean Paul sind nur einzelne Handschriften an verstreuten Orten aufgetaucht und veröffentlicht. — Heinrich Voß (1779—1822), der älteste Sohn des Homer-Übersetzers, seit 1807 Professor der Philologie in Heidelberg, hatte im Juli 1816 ein Exemplar des 3. Bandes der von ihm und seinem Bruder Abraham im Cottaischen Verlage herausgegebenen „Schauspiele von W. Shakespeare“, der „Antonius und Cleopatra“, „Die lustigen Weiber von Windsor“ und „Die Irrungen“ enthielt, durch Cotta mit einem (nicht erhaltenen) Begleitbrief an Jean Paul schicken lassen, s. Nr. 205†. Wie Voß am 23. Juni 1816 an Cotta schreibt, hatte ihm Jean Paul einige Tage vorher (vielleicht durch Emanuel, der Anfang Juni 1816 in Heidelberg gewesen war) „gar Erfreuliches und Aufmunterndes“ über seinen Shakespeare sagen lassen und die Absicht geäußert, in einer neuen Auflage seiner Aesthetik ihn nach Würden aufzuführen. (S. Briefe an Cotta, 1925, S. 338; vgl. auch Persönl. Nr. 396, S. 268.) 92, 21f. Holofernes im Morgenblatt: das Morgenblatt v. 14. Okt. 1816, Nr. 247, hatte den Anfang der von H. Voß übersetzten 2. Szene des 3. (richtig 4.) Aufzugs von Shakespeares „Der Liebe Müh’ umsonst“ gebracht, worin der Schulmeister Holofernes mit seinem gelehrten Kauderwelsch auftritt. 93, 2ff. Von der Vossischen Aristophanes-Übersetzung (gedr. 1821) waren einzelne Proben in den Heidelberger Jahrbüchern erschienen; über Welckers und Wielands Übersetzungen s. Bd. VI, Nr. 442†; Fr. Aug. Wolf hatte die Wolken (1811) und die Acharner (1812) übersetzt. 23 Buchhandlung: Mohr & Zimmer in Heidelberg; vgl. Bd. VI, Nr. 867. 30 Schwarz: s. Bd. VI, Nr. 165. Frau von Ende: s. Bd. VI, Nr. 930. 31 Helmine: von Chézy, s. Bd. VI, Nr. 241; sie hatte 1816 „Gemälde von Heidelberg, Mannheim usw.“ heraus gegeben.