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Korrespondenz

Von Jean Paul an Caroline Richter. Heidelberg, 18. Juni 1818 bis 20.Juni 1818.

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Heidelberg d. 18ten Jun. 1818 [Donnerstag]

Die ersten Zeilen, die ich auf dem alten Schreibberge schreibe, sind an dich, liebe Karoline. Montags Mittags reisete ich ab, Dienstags Mittags kam ich an. Mein treuer Voß war mir 2 Stunden ent gegen gegangen. Die Herzogin fand ich nicht mehr. Bei Voß mußt’ ich Mittags essen; auf ein Paar Stunden war ich mit ihm bei Paulus, aß aber zu Hause nur eine Suppe. Ich bin hier nicht halb so froh als früher, aus vielen Gründen. Die guten Menschen sind noch die Alten; aber das Neue kann nicht zweimal kommen; und manche alte fehlen auch, die Ende, die Piatoli, Sophie D[apping], die Hegel, auch die Tochter der Koch, bei der ich zwar sehr gut, doch nicht ganz so herrlich wie in Frankfurt wohne. Das Familienleben fehlt mir auch im prächtigen Gasthofe. Gestern gab der Mann (den der Schlag getroffen und der mich eben so ehrt wie sie) mir und einigen Professoren (worunter auch Wilhelm Schlegel) ein Mittagmal. Mir wurde eine Blumenvase, aus lauter Konfituren gebacken, vorgesetzt und sie steht jetzt unberührt neben meinem Spiegel. Dem guten Max wünscht’ ich wenigstens die beiden Henkel zum Anbeißen. — Gleichwol drückt mich nicht nur meine alte Melancholie — die salomonische Hektik — sondern auch die Sehnsucht nach Hause und nach Stille. Große Reisen mach’ ich künftig nie mehr ohne etwas Lebendiges aus dem Hause. Vorgestern und gestern war ich nicht recht froh; nur jetzo labt mich hier oben der freie blaue TagVon heute an hab’ ich nun die Regel: daß ich gegen mein drückendes Sehnen an der freien Natur meine Heilkünstlerin finde. Eine schöne Mondscheinnacht halt’ ich kaum im Zimmer aus.. Frankfurt hatte mich durch Liebe und Mitternächte 〈Nachtwachen〉 erschöpft. Hier erst schafft’ ich das morgendliche Erbrechen wieder ab, ob ich gleich auch dort zehnmal mäßiger getrunken (aber nicht gesprochen) als bei euch oder als Wangenheim. Die Wennersche Familie ist eine seelenherrliche; der Mann weinte, und ein Lottodirektor Malz; Weiber 〈Mütter〉 kamen auf mein Zimmer zum Scheiden. Emanuel muß einst unter diese Seelen hinein. In Offenbach trat eine schöne Mutter von 6 Kindern mir bei meiner Ankunft (zu einem Konzert bei dem schlaggelähmten Ewald ((Nachfolger des Bertrand)), dem nichts vom Leben noch geblieben als das Ohr) geradezu entgegen und drückte mir ein Blatt des Danks für die Levana in die Hand und nie blickten weibliche Augen mich liebender an — nur deine ausgenommen — als ihre. Sie war eine Freundin von Villers. Mündlich zehnmal mehr. Welche offne schöne Gesichter in diesem Offenbach! — Das Lieben der Menschen ist der einzige Thau noch für meine Seelendürre. — Gerade unter jene liebenden Scheidungen in Frankfurt traf dein letzter Brief, der mit seinem erfreuenden Anfange und Mittel (von der Herzogin und deinem Frohsein) mich nicht auf die Schmerzen des letzten Blattes vorbereitete, wo du auf einmal von der unmöglichen Möglichkeit sprachst ohne dich und meine Kinder und mit den nachgeschickten Sachen in der Fremde zu leben. Ich nahm die Schmerzen auf meinem ganzen Nachmittags-Weg mit. Es ist zu hart, wenn ein Mund, der nie unwahr gewesen gegen dich, nur einen kurzen und immer unterbrochnen Glauben findet. — Schwerlich bleib ich hier so lange wie in Fr[ankfurt]; vielleicht geh ich nicht einmal nach Manheim, weil die Oper 〈der Gesang〉 schlechter sein soll. — Frage doch nach, ob das Pferd des Einspänners Krotsch wiederhergestellt ist, und frage nach andern Einspännern, und ob sie gegen Ende des Monats nicht auf lange verdungen sind. Nur das kaltmachende Schaf Ham mag ich nicht, das noch dazu auf meine Rechnung vor dem Abfahren in meiner Abwesenheit verschluckt hat. — Sophie P[aulus] ist auf dem Wege einer Abblüte wie die Said, mit der sie auch physiogno mische Aehnlichkeit hat; und ich sagte es ihr und der Mutter, welche dasselbe fürchtet. Sie zersetzt sich durch ihr übermäßiges Klavier spielen, seit Hommel hier gewesen, den sie erreichen will. Voßens Mutter .... aber endlich muß ich aufhören, wenn ich an diesem Morgen noch etwas für Cotta machen will.

d. 19ten

Heute hab’ ich bei Schelver dem wahren magnetischen Gottes dienste von 11 bis 2 Uhr beigewohnt. In einem Saale versammeln sich an 27 Menschen beiderlei Geschlechts — im Kreise auf Stühlen sitzend, alles durcheinander, Mädchen von 13 Jahren und alte Mütterchen, gemeine arme Bürgerweiber, daneben ein kräftiger Student, ein fetter Landamtmann, Offiziere, vornehme Frauen — alles sitzt zufällig durcheinander, Alter und Blüte und Stand und Geschlecht und fäßt sich rechts und links an der Hand — der blinde Aut sitzt in der Saalecke des Kreises und fäßt auch — Schelver magnetisiert mit wenigen Strichen jeden Einzelnen, im Kreise umgehend — dann wieder mit einem Eisenstäbchen. Dieß wird mehrmal wiederholt — so sinkt ein Kopf nach dem andern in Schlaf — nur einige Neuangekommene blieben wach — Ich war im Tempel des Weltgeistes. Wie der Kirchhof und die Kirche alles gleichmachte, so hier der Saal. Zuschauer sind auf dem Kanapee oder unter der Thüre. Nach 2 Stunden stehen die Schlafenden wieder auf, die blos vorbereitet werden. Der Blinde in der Ecke bleibt in seinem Schlafe. Dann kommt Md. Schelver mit Papier und Dinte und allmählig fängt er an, für die Kranken, die er wählt oder die ihm genannt oder verbunden werden, die Rezepte zu diktieren mit der höchsten Pünktlichkeit der Dosen, aber mit schrecklichen herauswürgenden Gebehrden, im Wachen immer freundlich, aber im Schlafen wild und alles hervorknirschend, und doch mit frommen Äußerungen überall. Ein Offizier mit Orden kam und noch ein Fremder und Schelver verband die 4 oder 6 Hände und er entschied. Gewöhnlich verschiebt er die volle Entscheidung auf den nächsten Tag. — — — Wenn ich nur nicht so viel schreiben müßte ... Die Schelver hält er für seine Frau und sagt ihr, sie solle alles dem H. Professor sagen, er habe nicht das Herz; denn er weiß dessen Danebensitzen nicht. Sein Aufwachen ist fürchterlich-krampfhaft und langsam; alsdann ist er ungemein freundlich und bescheiden, was er alles im Schlafe nicht ist. Und doch halten einige Aerzte hier alles für Betrügerei, trotz der auffallendsten Heilungen. Ich stand vor dem Abgrunde der Geisterwelt. Für 5 oder 6 unheilbare Kranke wurden heute die Rezepte eingeholt. Die Krüdner setzt sich immer auch neben ihn ohne Ursache 〈Noth〉 und bekommt starke (von Schelver bald geheilte) Zuckungen und Schlaf; sie sagte mir aber, es schade ihr nichts; und sie blüht auch. Von 12½ bis 2 Uhr, wo der Blinde zu reden anfängt, füllt sich der Saal. Nicht sein Ton und seine Aussprache, aber seine Sprache erhebt sich, z. B. Gott ist der allgemeine Weltarzt, oder die Weiber alle sind „wehleidig“. Mir grauset jetzo nur vor den Disputazionen für ihn — —

Du hast doch meine Briefchen an Emanuel, Otto, Welden etc. erhalten?

Voßens Mutter stößt eigentlich mit dem eckigen kalten Gesicht und Auge ab; aber ihr ganzes Betragen zeigt die altdeutsche Haus frau, die ohne Rede und Widerrede den Mann beglückt und befolgt und alles um sich her erfreuen will. Voß hat Kraft und Stolz des starken gebognen Nackens wie ein kühner Pegasus. Aber beide lieben mich. —

Warum schreiben mir denn meine lieben Kinderlein so wenig?

Deine Briefe adressierst du: abzugeben im Karlsberg.

Schreibe mir von euerem Wetter und unserem Haushalten. Lege Jetzo Bier ein; nur müßt ihr das zu alte und starke vorher wegtrinken. — Vergiß ja nicht, mir auch die Fragen des vorigen Briefes zu beantworten.

Sonntag. d. 20ten

Gestern abends schickte Hufeland aus Berlin eine Karte. Mit ihm, seinen Töchtern und seiner zweiten Frau und einer großen Gesellschaft bestieg ich wieder die große Ruine. Die Frau — eine deiner alten Freundinnen — konnte nicht genug von dir hören.

Heute wird mir und Schlegel zugleich ein Vivat gebracht. — Ich muß schließen. Berechne immer den doppelten Laufraum der Briefe. — Mein letzter Brief mit Briefchen kann erst Mittwochs bei dir eingelaufen sein; deine Antwort kann, sogar wenn du am selben Tage schriebst (aber du solltest daher wie ich an jedem Tage etwas schreiben und sammeln), nicht eher wegen des Umwegs anlangen als künftigen Montag. Möchtest du nur darin mich nicht wieder mit Fieberträumen unglücklich machen! —

Ich gehe dieses mal ganz anders von Heidelberg fort als das vorige mal, wiewol auch da nichts in mir war, was dir unlieb hätte sein sollen. Fast gar zu prosaisch seh ich jetzo alles an und die „poetische Blumenliebe des vorigen Jahrs“ ist leider (denn sie war so unschuldig) ganz und gar verflogen, eben weil sie ihrer Natur nach keine Dauer und Wiederholung kennt. Was ich mir aber immer wärmer ausmale, sind unsere Abendmalzeiten. Ach wahrlich wir sollten diese Freuden eines noch unzerbrochnen Kreises höher halten und genießen. Wie lange währt es, so zieht Max fort! Allmählig ziehen ihm die andern nach und dann sitzen wir beide allein da und zuletzt du ganz allein! Ach laßt uns lieben, so lange noch Zeit zu lieben ist. Ewig der


Deinige Grüße Emanuels, Ottos und meinen Bruder und seine Frau.
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Caroline Richter. Heidelberg, 18. Juni 1818 bis 20.Juni 1818. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_428


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 432. Seite(n): 206-210 (Brieftext) und 410-411 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 12 S. 8°. J 1: Wahrheit 8, 157×. J2: Nerrlich Nr. 161×. B 1: IV. Abt., VII, Nr. 123. B 2: IV. Abt., VII, Nr. 125. A: IV. Abt., VI, Nr. 133. 206,21 Bei bis 22 Mittags] aus Mit Voß ging ich auf zwei Stunden 25 alte] aus alten 28 wohne] aus lebe 207,26 vorbereitete] aus zubereitete 29 NachmittagsWeg] aus Nachmittagweg 33 der Gesang] aus Sänger 35 drückendes] davor gestr. ewiges 208,19 fäßt] davor gestr. hält 26 sind] aus sitzen 27 stehen] aus gehen 209,6 ist] aus war 12 und1] aus oder 18 Briefchen] aus Briefe 23 Voß] aus Er 33 schickte] davor gestr. ging 210,6 wegen] wenn 7 künftigen] davor gestr. morgen 12 war] aus ist

Mit einem Brief von Heinrich Voß an Emanuel. 206, 18 Schreibberg: s. 128, 2†. 21 Die Herzogin Dorothea von Kurland war, nachdem sie sich am 10. Juni auf der Durchreise in Bayreuth aufgehalten und Karoline begrüßt hatte (worüber diese in B 2 ausführlich berichtet, s. 207, 24), am 13. in Heidelberg angekommen, aber schon am 15. früh nach Paris weitergereist. 26 Frau Hegel war in Bad Schwalbach. 207, 12 Malz: vgl. Nr. 439. 13—20 Die schöne Mutter war eine Frau Dr. Becker, s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 129. Über den musikliebenden Weinhändler Ewald, einen Bruder des Offenbacher reformierten Pfarrers, s. Emil Pirazzi, Bilder und Geschichten aus Offenbachs Vergangenheit (1879), S. 196, und Jean-Paul-Blätter, 18. Jg. (1938), S. 33. Bertrand: gemeint ist wahrscheinlich der theater- und musikliebende Offenbacher Schnupftabakfabrikant Peter Bernard (1755—1805), in dessen Privatkapelle Thieriot 1805/06 tätig gewesen war und Eva Hoffmann kennengelernt hatte. 25—28 Karoline hatte in B 2 geschrieben, er solle solange er wolle in Heidelberg bleiben, ja es sei vielleicht für ihn und sie das beste, wenn er ganz dort bliebe und sie ihm seine Sachen nachschicke. „Daß Rücksicht auf mich Dich davon abhalten könnte, ist nicht anzunehmen; was bin ich Dir, und welche Ansprüche kann ich nach den Erfahrungen an Dich machen! — mein Glaube ist dahin, und der Zauber des Lebens unwiederbringlich für mich erloschen.“ 208, 5 die Said: vgl. 124, 27. 8 Hommel: gemeint ist der österreichische Pianist und Komponist Joh. Nepomuk Hummel (1778 bis 1837), damals Hofkapellmeister in Stuttgart, später in Weimar. 10 etwas für Cotta: „Traum eines bösen Geistes.“ 12ff. Über diese magnetischen Sitzungen hatte Frau von Ende schon in einem Brief an Karoline Richter v. 23. April 1818 (Berlin JP) ausführlich berichtet; vgl. 139, 20—25† . 209, 10 Krüdner: vgl. 139, 21. 33 Hufeland: vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 81; er hatte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen und 1805 Helene Troschel geheiratet.