Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 30. August 1818 bis 2. September 1818.
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227,1
Mein guter Heinrich! Zuerst meinen warmen Dank für euere
Zwillinggeburt! Deine mir blos zu kurze Vorrede
verschlang ich.
Ein solcher Wiederhersteller des
poetischen Textes beweiset sich da227,5
durch freilich als den besten Übersetzer desselben; denn deine Ver
wandlungen der Prose in die Poesie
setzen viel Englisches voraus
und mehr poetischen Sinn als so viele Engländer haben.
Aus deinen
so ausgesuchten und sparsamen Noten hätt’ ich
entbehrliche wegge
wünscht wie S. 494
e) vom Amphion; selber i) —
oder gar 513 u)
227,10
Apollo — S. 497 b) — 500
f) und g).
An deines Vaters Übersetzung hab’ ich die alte Gediegenheit be
wundert, die Silber in das kleinere
Gold für den engern Raum
umsetzt. Nur müssen bei seinem
Grundsatze, daß Text und Über
setzung
sich mathematisch decken sollen, Härten (am meisten in227,15
Romeo) vorkommen, zumal bei Shakespeare’s Knospenhärte
statt
der Blätterweiche. Z. B. S. 249
Die himmlische Stelle S. 62 ist entstellt durch
Denn nur um das Verlorne und nur über das 〈oder auch dem〉
Daseiende〈n〉 weint man.
Lieber so:
Die nächste Plus-Sylbe ist schon wegzubringen. Einmal
steht (wie
leider auch im Siebenkaes) ein Cherubim, da dieses doch der Plural
227,25
von Cherub ist, wie Seraphim von Seraph. Herrlich
benützt und
bereichert er die Sprache wie z. B. mit
Gedünst, Gelümp; unlaß,
die Sprenge etc. etc.; auch
niedersächsisch wie pampen. Ich freue mich
unendlich auf das Fortfahren. —
Nur noch einige Tadelwörtchen! Allerdings ist ein Murki lustig.
Yorik in seiner Reise sagt schon: es wäre (nach der
empfindsamen
Szene) gewesen, als wenn man nach ihr ein Murki hätte
spielen
wollen. — S. 557 Alle Vogelsteller haben
Lockvögel bei Leimruthen;228,1
und mehre werden in ihren
Antikritiken lachen und sagen, du hättest
es bei ihnen
näher haben können als bei Shakespeare. — S. 374
brauchen
und gebrauchen sind so verschieden (ausgenommen im
Perfekt) wie egere und uti. —
Das anglisierende Nachsetzen des228,5
regierten Worts
störte mich oft sehr (z. B. S. 373), im Versmaße
weniger,
weil dieses die größere Wichtigkeit, die man dadurch auf
etwas legt, erlaubt. — Aus so kleinen Nachfoderungen kannst du
ersehen, welche große Vorfoderungen ihr beide erfüllt
habt, wenig
stens für mich.228,10
Ich gehe nun leicht auf den ältern Übersetzer über, der statt des
jüngsten geheirathet worden von Saulinen. Der Vermählring beider
ist Glanzsucht; er in seinem Alter will mit einem
schönen Klavier
Mädchen, sie mit einem
durch Europa als Staelischer Kebsmann
berühmten Ehemännlein prunken. Hätte sie viel warmes
Gemüth,228,15
so würde seine Armuth daran sie sehr
bestrafen. So aber können sie
vielleicht eine leidliche
Ehe voll paralleler Lobjagden führen. Welch’
eine warme,
ja noch wärmere, Freundschaft wäre ihr von mir in
die Ehe
mit einem rechten, heissen, edeln Jüngling nachgefolgt! —
Indeß meine Bücher bringt er ihr — wider deine Meinung — nicht228,20
aus Kopf und Herz zugleich. Vernimm doch ihr jetziges
Urtheilen
darüber. Auch ist ja er nicht einmal mein
ganzer Gegner. Höchstens
wird er ihr Überloben auf das
Ebenmaß herunterstimmen. — Die
Zeitungen stellen ihn in
Berlin an; ists wahr oder Verwechslung
mit Hegel? — Ihr Betragen gegen
mich ist, falls sie ihn schon
228,25
damals gewollt und sie die Reiherin dieses
größern Falken geworden
war, in
Rücksicht auf mein ironisches gegen ihn und sie wirklich gut
und würdig gewesen. — Gerade jetzo schreibe mir von ihr
als einem
psychologischen Anagramm, so wie von ihm, und
ärgere dich nur
nicht übermäßig, sondern mäßig.228,30
Eh’ ich nach Mainz ging, schrieb ich: es bleibt schön Wetter bis
Mitte Augusts; dann Regen; dann vom 1 bis letzten Sept.
schön
Wetter. — Eine Betrügerei durch
Auth wäre die schwierigste und
zweckloseste, da ja Schelver
besser selber verschriebe und dann gewiß
228,35
anstößige
Ingredienz[i]en weglassen würde; —
eine von ihm wäre
seinem Kopfe
und seinem Gemüthe unmöglich. Ich glaube, er ist229,1
blos noch
nicht reif genug zum Hellsehen, und wurde noch dazu in
diesem überstrengt durch zu vieles Fragen. Gerichtliches mistrauen-
des Ausfragen entkräftet auch die
beste Hellseherin. — Für den Brief
deiner herrlichen
Mutter dankt Mann und Frau. Wer setzte in
229,5
einer solchen haushaltenden Hand eine solche Feder
voraus? — Der
Sophie Dapping drücke die Hand, die so gern gibt. — Ihren
Bruder
treibe zur Eile; auch schon meiner Neugierde wegen, da
ich eigentlich
noch nie eine ordentliche Rezension des Siebenkäs erhalten. — Hier
meine schwachen Antworten:229,10
bei uns das Perspektiv und die Perspektive.
〈Spiegelwesen, -gestalt〉 (natural perspective) übersetzen,
höchstens Vexierbild — „Spieglung“ wie in Arabien, wo die229,15
Sandwüste als Wasser erscheint.
(scornfull perspective). Eigentlich ein zylindrischer 〈konvexer〉
oder metamorphotischer Spiegel. Für die Dichtung ists noch
genug: „Kugelspiegel, Kugelglas, oder Verzerrspiegel.“
zieh-〉gläser“ (Like perspectives) — Hier ist für die Poesie das
Allgemeine, nicht das Mathematische das Beste; wie es ja im
Englischen auch ist.
„Optisch- oder optischer Betrug“ — „Fernseherei“ „Fernsicht“
— „Trugsicht“ „Täuschferne“ 〈Verwandelferne〉. Hier bezieht
sich alles auf die Malerperspektive, also auf die Ferne.
Von deinem Abraham möcht’ ich doch nur etwas mehr Äußer-
229,30
liches wissen, und wem er
gleicht. Schreibe mir von ihm; denn ich
liebe ja euch
alle. — Cotta lehnte, nach seiner Gewohnheit, den
Verlag
der von mir sehr gelobten Gedichte Schuhmachers ab. — Deinen
Eltern wünsch’ ich Glück zur Reise, das ohnehin schon
der äußere
230,1
Himmel zu geben anfängt. — Und so lebe recht froh,
Lieber!
Schreibe aber bald!
J. P. F. Richter
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 30. August 1818 bis 2. September 1818. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_456
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Landesbibl. Eutin. 8 S. 8°. K 1: Voß in Heidelb. 2. Sept. K 2 (von Karolinens Hand): Berlin JP. J: Voß S. 54×. A: IV. Abt., VII, Nr. 149. 227, 2 30.] aus 27. H 6 den besten] aus der beste H 7 die] fehlt K 1 9 entbehrliche] davor gestr. einige H 14 seinem] aus deinem H 18 die Strichlein mit roter Tinte H 29 auf] davor gestr. über 34 ähnliche] aus einige H 35 Leser] aus Lesern H 228,5 wie] aus als H anglisierende] nachtr. H 12 Vermählring] aus Kopulierring H 13 Klavier-] nachtr. H 15 berühmten Ehemännlein] aus Berühmten H warmes] nachtr. H 17 paralleler Lobjagden] aus wechselseitiger Ruhmjagden H 19 mit einem ... Jüngling] aus eines ... Jünglings H 24 stellen ihn in Berlin an] aus schicken ihn nach Berlin H 25 ist] aus war H falls] aus wenn H 26 gewollt] aus woll te H, davor gestr. geliebt K 1 die Reiherin] aus der Reiher H größern] nachtr. H geworden] nachtr. H 27 mein ironisches] aus meines H 229,12 bei uns das] aus unser H die] davor gestr. unsere H 19 ists] vielleicht ist H 27 Verwandelferne] aus Wandelferne H 35 ja] aus doch H
227,4 Zwillinggeburt: der 1. Band „Shakespeare’s Schauspiele, (übersetzt) von J. H. Voß und dessen Söhnen Heinrich und Abraham Voß“, Leipzig, Brockhaus, 1818, enthaltend Sturm, Sommernachtstraum und Romeo von J. H., Viel Lärmens um Nichts von H. Voß. 18 Romeo II, 1: „Turn back, dull earth.“ (Schlegel: „Geh’, frost’ge Erde.“) 20 Sturm III, 1: „To weep at what I am glad of.“ (SchlegelTieck: „Zu weinen über etwas, das mich freut.“) Vgl. 238, 7—9. 25f. ein Cherubim: Sturm I, 2 (Voß S. 14); im Siebenkäs: I. Abt., VI, 435, 33; so auch I. Abt., V, 176, 8, II. Abt., 72, 30. (Auch bei Kleist, Kätchen von Heilbronn IV, 2.) In A verteidigt Voß die Form. Seraphim als Singular: I. Abt., V, 284, 32, VI, 488, 24. 27f. Gedünst, Gelümp: Voß S. 84f. = Sturm IV, 1, engl. rack, trumpery; unlaß: Voß S. 39 = Sturm II, 1, engl. lusty; Sprenge: Voß S. 80 = Sturm IV, 1, engl. shower. 31ff. Murki: zu S. 334 „ein lustig Murki“ (Romeo IV, 5, engl. a merry dump) macht H. Voß die unrichtige Anmerkung: „Ein lustig Murki ist so widersinnig, wie lustig Andante, lustig Lamentoso.“ Im Original von Yoriks Sentimentaler Reise kommt das Wort nicht vor, wohl aber in Bodes Übersetzung in dem Abschnitt „Das Geheimnis. Paris“: „Das hieße, nach einer sehr pathetischen Arie ein Murqui spielen wollen.“ Vgl. 238, 5—7; I. Abt., V, 64, 7, 341, 27; Br. III, 41. 228, 1 Vogelsteller: zu S. 412 „Sie klebt am Leim“ (Viel Lärmens um Nichts III, 1) merkt H. Voß S. 557 an: „wie ein Vogel auf der Leimstange. Anspielungen hierauf kommen bei Shakespeare häufig vor ... Aus Heinrich VI., zw. Th. (I, 3) ergibt sich, daß Lockvögel bei den Leimruten hingen.“ 4 brauchen und gebrauchen: Viel Lärmens um Nichts I, 3 antwortet Don Johann auf Konrads Frage, ob er mit seinem Mißmut nichts zu machen wisse: „Ich mache alles mögliche damit, denn ich brauche nur ihn.“ (engl. „I make all use of it, for I use it only.“) 22 nicht mein ganzer Gegner: vgl. 200, 11f. 23—25 Hegel war von Heidelberg nach Berlin berufen; A. W. Schlegel ging nach einigem Schwanken nach Bonn. 32 Mainz: vielmehr Frankfurt, vgl. 186, 10f. (Auch 265, 15 wollte Jean Paul, wie H zeigt, statt Frankfurter erst Mainzer schreiben.) 229, 3 überstrengt: diese Form auch häufig bei Herder, s. Grimms Wörterbuch. 4—6 Brief deiner Mutter: Ernestine Voß hatte sich für ein „herrliches Briefchen“ von Karoline Richter und eines von Emma sowie für den Siebenkäs in einem Schreiben an Karoline v. 16. Aug. 1818 (H: Berlin JP) bedankt, worin sie diese um eine genaue Schilderung ihres häuslichen Lebens bat. (Karolinens ausführliche Antwort s. Nerrlich Nr. 166.) 11—28 Perspective: Voß hat diese Antwort Jean Pauls in einer langen Anmerkung zu Richard II. (II, 2) im 4. Bd., 1. Abt., S. 285, der Shakespeare-Übersetzung berücksichtigt. Im 2. Bd., S. 395 (Was ihr wollt V, 1) übersetzt der alte Voß das Wort mit „Schattenspiel“ (Schlegel mit „Gaukelschein“), und Heinrich merkt dazu an (S. 625): „Perspective, sonst ein Tubus für optische Täuschungen, wie ... in Shakespeares Ende gut, alles gut (V, 3), ist hier das optische Bild selbst ...“ 25 Heinrich V.: V, 2.