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Korrespondenz

Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 10. März 1819.

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[Druck]

Baireut d. 10ten März 1819
256,12

Mein Heinrich! Unter 20 Briefen beantwort’ ich gewöhnlich
10 nicht; dann kommen die andern 10, auf die ich noch die Antwort
schuldig bin, eine an Jakobi, an Thiersch, an Yelin für 2 physikalische 256,15
Werkchen, an die deutsche Gesellschaft in Berlin wegen meines S-
Krieges, von dessen Rechtmäßigkeit und Siegausgange mich gerade
die Feinde am ersten überzeugen, an Wangenheim, an den Dichter
Wetzel, an Franz Horn, an den Satiriker Friedrich ... Aber beim
Henker, an dich soll geschrieben werden und wär’s auch noch so eilig256,20
und schlecht. Zuerst den größten Dank für euren Shakespeare.
Eure Tadler, die ihn im Deutschen fließend haben wollen, vergessen,
daß er ja selber im Englischen für die Britten ein Strom voll drän-
gendes Treibholz ist, besonders in den Versen, für welche die Kürze
deines Vaters eben recht paßt, wenn gleich zuweilen weniger für 256,25
den flüchtigen Dialog.


Für die niedersächsischen und altdeutschen Kernwörter sollte man
euch danken, so wie jetzo S. 84 wieder Prahl-, S. 70 Zagwicht (Sinn
reim), S. 80 ein Trübauge, S. 224 Abbefehl etc.etc.etc. In Wortspielen
gewinnst du gegen jeden Übersetzer das Spiel, wie z. B. S. 409 Eid256,30
ablegen, 431 gefaßt und los und gar in dem Teufels Hirschlein
S. 468; so auch dein Vater S. 87. — Mehre Nachstellungen der
Substantive wollen meinem Ohre nicht ein, z. B. S. 18 ehe ich
heirathen wollte einen Schwamm — S. 202 der Rüpel — S. 212257,1
zu kennen sich selbst. — Wenige Stellen klangen mir hart: S. 407
Sens’ stümpft die Schärf’ — S. 414 Doch schein’ ich auch träg’ —
oder unmetrisch: S. 489 reizvoll dem Bărbārohr. Deine Noten
erquickten mich; nur wegzulassen fand ich S. 557 die über das Spiel257,5
des Lebens; eine Vergleichung, welche das Leben der ganzen Mensch
heit in den Mund legt — und S. 576 über Endymion und Argus.
S. 580 scheinst du mir zu irren; erst spät an die Stelle der Schwitzkur
trat die Quecksilberkur; welche Einfälle würde nicht auch sonst
Shakespeare über das Quecksilber vorgeströmt haben! — Übrigens257,10
soll mein Tadeln nur den Muth meines Lobens rechtfertigen. Künftig
ein Mehres, und zum Glück mündlich — und zum Glück im April —
und zum Glück in meinem Hause, denn du mußt bei mir wohnen
und Frau und Kinder freuen sich dir entgegen. — — —

Eben darum wird mir briefliches Aussprechen langweilig, da ich257,15
mündliches so nahe vor mir habe. Vorlieb mußt du freilich nehmen;
aber dein Wohnen unter Einem Dachstuhl mit mir wird mich blos
zu wenig stören, da du in Frau und Kinder dich zu sehr vertiefen und
verlieben wirst. Den April haben wir sämmtliche Wetterpropheten
zu einem schönen blauen Frühling gereinigt. Nur schreibe mir, ob257,20
es dir gleichgültig ist, daß du auf deiner Reise nach der Bettenburg
— wohin ich auf keine Weise kann — am Anfange oder am Ende
derselben Baireut berührst. Denn ich möchte gern meine nach deiner
richten. —


Deine Briefblättchen an deinen geliebten Abraham kannst du 257,25
dann bei mir selber aussuchen. — Deine Rezension der Ahnfrau
ist ganz gerecht; nur verbirgt die Überfülle des Gefühls sich nicht
genug hinter kalte Gründe und gibt das Ziel statt der Bahn dahin.
— Hundert Dinge, die auf meinem Brief-Küchenzettel zum Zube
reiten und Auftragen schon seit Monaten stehen, bleiben für deine257,30
Augen weg und für deine Ohren zurück. Himmel, wie viel will ich
reden! Und wie viel hören! — Bringe meiner lieben guten Sophie
Paula,
die kein S—aula mehr ist, meine warmen Herzgrüße und der
Mutter und dem Vater, dem Vorfechter der religiösen und der poli-
tischen Freiheit. — Ich antworte auf so vieles in deinen Briefen257,35
nicht, weil du das Wenigste aus ihnen noch wissen wirst. Z. B.
Im Jubelsenior ist gar nichts aus meinem Leben, kein Charakter,
alles nur Gedicht; so alle Begebenheiten im Hesperus und Titan und 258,1
die meisten Charaktere. —


Über die beiden versprochnen Anzeigen meines Siebenkäs oder
vielmehr über deren Beschleunigung will ich nun kein Wort mehr
verlieren — etwan dieses letzte ausgenommen —; denn leichter258,5
dürften vielmehr beide zu früh erscheinen als zu spät, falls sie, wie
ich hoffe, die 2te Auflage zugleich mit der dritten beurtheilen und es
zeigen wollen, worin ichs in dieser besser getroffen.


— Den 20ten Jenner hab’ ich meine Selblebensbeschreibung
wieder weggeworfen; ich habe angenehmere und nöthigere Dinge zu258,10
thun. — Mein Pudel (Ponto) wird dich freuen; Alert ist dahin.
— Deine Dinte ist zu bleich. — Nach Heidelberg komm ich gewiß
nicht. Mein erstes Dortsein war fast die Ilias meines Lebens; das
zweite mehr die Odyssee; aber sehen möcht’ ich jeden guten Heidel-
berger in Stuttgart. — Meine Frau dankt herzlich deiner so schön 258,15
schreibenden wie handelnden Mutter. Alle Deinigen grüßt mein
Herz; und die übrigen wird dir deines auch nennen, da ich keine Zeit
mehr zu Worten habe. Und du schreibe bald und komm bald!



Dein
Jean Paul Fr. Richter
258,20
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 10. März 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_511


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 515. Seite(n): 256-258 (Brieftext) und 428 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K 1: Voß 10 März, ab 12. K 2 (von Karolinens Hand): Berlin JP. i (nach K 2): Wahrheit 8,172×. J: Voß S. 72×. B: IV. Abt., VII, Nr. 162. 256, 13 20] so J, 10 K 2 22 fließend im Deutschen J 23 selber] so J, selbst K 2 28 euch] so J, auch K 2 34f. die Fußnote steht im Text K 2 257,4 Bärburohr K 2 15 mir] so J, mein K 2 i 18 da] weil J 19 verlieben] verlieren J sämmtlichen J 30 stehen] steht vor schon J 258,9 Selberlebensbeschreibung i 10 nöthigere] nothwendigere i

256,15 Yelin: s. zu Nr. 525. 19 Horn, Friedrich: s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 167 und 164. 21ff. J. P. hatte den 2. Bd. der Vossischen Shakespeare-Übersetzung erhalten mit dem Kaufmann von Venedig von J. H., Maß für Maß von Abraham, Der Liebe Müh umsonst von H. Voß. Darin Prahlwicht: Kaufmann v. Venedig III, 4 (engl. bragging Jack); Zagwicht: ib. III, 2 (coward); Trübauge: ib. III, 3 (dull eyed fool); Abbefehl: Maß für Maß IV, 2 (countermand); Eid ablegen: Der Liebe Müh umsonst I, 1; gefaßt und los: ib. I, 2; Hirschlein: ib. III, 2 (Holofernes’ allitterierende Verse); S. 87 = Kaufmann von Venedig III, 5: Wortspiel mit Mohr, Rumor, Moor. S. 557 merkt H. Voß zu Kaufmann v. Venedig I, 1 an: „Die Welt, als Bühne gedacht, ist ein dem Sh. gewöhnliches Bild“ und gibt Belege dafür; S. 580 zu den Worten der Kupplerin in Maß für Maß I, 2, sie sei durch das Schwitzbad kundenlos geworden: „Die an den Franzosen krank lagen, wurden ... mit Merkuriussalbe eingerieben und in eine Schwitztonne (powdering-tub) gesteckt... Auch Cervantes gedenkt dieser Heilart im Don Quixote.“ 257, 21f. Voß wollte seinen Freund Chr. v. Truchseß auf der Bettenburg besuchen, wohin auch J. P. eingeladen wurde, s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 171. 26—28 Rezension der Ahnfrau: in den Heidelberger Jahrbüchern, 11. Jg., 2. Hälfte, 1818, Nr. 71, S. 1129 bis 1136; vgl. 247, 11. 258, 3 versprochne Anzeigen des Sieben käs: von Karl Dapping (s. 176, 23—30) und H. Voß (s. 248, 29—32). 15f. Ernestine Voß hatte am 4. Febr. 1819 Karolinens Brief v. 8. Sept. 1818 beantwortet (Nerrlich Nr. 167); vgl. 229 , 4—6 †.