Von Jean Paul an Caroline Richter. Stuttgart, 9. Juni 1819 bis 12.Juni 1819.
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268,12
Die erste Zeile, die ich in meiner neuen Wohnung schreibe, sei
an dich, meine Theuere. Ich wohne gerade so gemüthlich,
wie sonst268,15
in Nürnberg,
bei dem Kaufmann Carl Mohr (so schreibe unten in
deinen Briefen bei), ein herrliches kinderloses Ehepaar;
habe zwei
heitere Zimmerchen wie ich sie wünsche mit
brauchbaren Möbeln
und Aussicht und allem. Gott sei es
gedankt, daß er den Cotta mir
aus dem Wege geschickt, der mich sonst in seinen Pallast
gezogen268,20
hätte. Kostet wöchentlich mit
Aufwartung 4 fl. Über mir hauset
auch ein Legazionrath
(v. Arand), aber ein wirklicher; und so hat
ein Liebhaber die Wahl, ob er Schein oder Realität
nehmen will.
Jetzo erst bin ich erheitert, und ich habe
nur zu wachen, daß ich mich
nicht wieder zu
einsiedlerisch einniste. Gestern bracht’ ich der Seelig-
268,25
mann selber den Brief, welche ihre Freude nachmittags
durch eine
zugeschickte ambrosische Brodtorte aussprach.
In Fürstenzimmern
sieht man etwas weniger Silber und
Seide als in ihren. Mit
Rührung und Begeisterung sprach
sie von deinen Verdiensten um
ihre Schwester, die dir nie
zu belohnen wären. — Darauf trug ich
268,30
meinen andern Brief zur seelreichen, ihrer
Schwester würdigen
Gräfin Beroldingen, und trug
ihn ruhig, weil ich nur an Hören
und Reden dachte, unabgegeben wieder nach Hause. Auf
Morgen
bin ich von ihr zu einer Landfarth eingeladen.
Gestern sah ich sie
(und ihren Mann auch) in einem großen
Gartenkonzert. Hier
268,35
konnt’ ich bei der Überschauung der höhern
Weiberwelt meine269,1
Wahrnehmung an der hiesigen niedern
wiederholen, daß es hier
äußerst wenige schöne Gesichter
gibt, aber dafür feste, gesundfarbige
und eckige; zehnmal
wolgebauter als die Gesichter sind die Straßen,
worein sie
wandeln.269,5
Das Regenwetter verwandelte die Fahrt in ein Mittagessen, wo
fast lauter Männer, Boisséree, Haug, ein Graf, ein
Oberpost-
meister waren.
Der überaus über mein Kommen erfreute Matthison lud mich
gestern zu einem Thée. Er und
der Hofrath Reinbeck werden zu viel
für meine Freuden thun. Nun gerath ich leider in den
Strom und
nichts wird mir fehlen als ein Bißchen
Einsamkeit. Auch das
Wetter hat seine schönere Form
wieder angenommen. Bedeutende269,15
oder auch
phantastische Frauen hab’ ich noch nicht gefunden, aber
vernünftige und gute; unverheirathete noch wenig gesehen. — Die
treffliche Beroldingen erreicht
nicht ihre Schwester an Ideen- und
Sprech-Kraft, an Lebendigkeit und an Gefühlwärme bei
aller ihrer
Güte. — Ein Professor Müller aus Bremen wurde
in dem gedachten
269,20
Gartenkonzert, als er eine Damengesellschaft nach
dem Dichter
Uhland fragte, für mich angesehen, und bekam ihren Wagen
und
fuhr damit wieder zurück ... aber jetzo weiß ich selber
nicht mehr wie
der Spaß ausging.
Heute d. h. nach einigen Stunden geht die Landfarth mit der269,25
Gräfin vor sich. Die Post versäume ich nicht. — Grüße
meine
Freunde. Die guten Kinder sollen für meine Sachen
sorgen. Schreibe
mir viel von ihnen; und lebe froh, meine Seele.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Richter. Stuttgart, 9. Juni 1819 bis 12.Juni 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_530
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 4 S. 8°. J 1: Wahrheit 8, 180×. J 2: Nerrlich Nr. 170×. 268,20 geschickt] aus schickte 23 nehmen] aus haben 30 trug] davor gestr. bracht 269,10 12ten] aus 11ten
268,15 f. wie in Nürnberg: vgl. Bd. VI, Nr. 649. 25f. Seeligmann: Schwester der Frau Enzel; vgl. zu Nr. 533. 30ff. Maximiliane Gräfin Beroldingen, geb. Freiin von Ritter zu Grünstein (1767 bis 1851), Schwester der Frau von Welden (s. Nr. 189†), seit 1802 Gattin des Geh. Rats und Oberhofmeisters Paul Joseph Grafen von Beroldingen (1754—1831). 35 Gartenkonzert: im Fuldaschen Garten (nach Jean Pauls Reisetagebuch). 269, 11 Der Dichter Friedrich von Matthisson (1761—1831) lebte seit 1812 als Theaterintendant und Oberbibliothekar in Stuttgart. 12 Georg Reinbeck (1766—1849), Prof. der deutschen Sprache am oberen Gymnasium und am Katha rinenstift, bekannt als Freund Lenaus. 20 Prof. Müller: vgl. Persönl. (1913) S. 307; wahrscheinlich Wilh. Chr. Müller (1752—1831), Professor an der Domschule in Bremen.