Von Jean Paul an Emma und Caroline Richter. Stuttgart, 20. Juni 1819 bis 22. Juni 1819.
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274,1
Das ganze Jahr schreib’ ich fast nicht so viele Briefe als unter
wegs und zwar an dich, liebe Karoline;
für mich unter allen Schreibe
reien die
behaglichste; und du kannst künftig der Welt mit ihnen274,5
zeigen, daß ich einen leichten Stil habe. — Gesund bin ich ganz;
aber das ewige Herumtrinken (siehe nur den Speisezettel)
verwüstet
doch am Ende; zum Glücke hab’ ich mir noch
nicht das kleinste Über
treten
vorzuwerfen. Gestern aß ich bei dem baierschen Gesandten
Tautphaeus, wo auch der gefällige angenehme preußische
war, und
274,10
die Huber, Dannecker, Matthison etc. Mit der Frau
— die ein
sehr schönes freundliches Gesicht mit seltsam-schön
geschnittenen
Lippen, doch nicht vorzüglicher Geist
noch besondere Empfindsamkeit
auszeichnen — und mit der
Tochter und noch einer schönen Gestalt,
deren Namen ich vergessen, fuhr ich zu dem Konzert auf
der Silber-
274,15
burg; und ich hab’ es
besonders zu rühmen, daß sie vor meiner Thüre
halten,
mich herausspringen und den heulenden Pudel oben herunter
bringen ließ. Auf der Silberburg fand ich neulich zuerst,
daß ich
den weiblichen Gesichtern (hohen und niedrigen)
früher bei dir Un
recht gethan und daß
recht viele schöne vor mir vorbei gegangen. Die274,20
Weiber hier find’ ich — und eben so die Männer — einfach, schlicht,
ohne schreiende Farben weder im Guten noch Bösen,
anspruchlos,
sogar im Putze. Leider setzen sie sich und die Männer stellen sich
bei dem Thée zusammen; aber ich wehr’ es sehr ab und
stellte neulich
dem Cotta seine
eigne Frau vor, damit er höflich dem Halbzirkel
274,25
näher käme. — Von Cotta
hab ich durch Reinbeck und Haug das
Bild eines eiteln Geizhalses erhalten; und er ist nur
gegen andere
durchaus nicht so, wie er bisher gegen mich
im Handel gewesen.
Ich thu ihm keinen Tritt entgegen, und
komme nur eingeladen,
welches heute das 2te mal ist. Ich werde Otto wichtige Züge von
274,30
ihm erzählen; — z. B. er macht selber den
Korrektor und quält
andere, z. B. die Huber, zu beiläufigen Korrekturen. — Die neue
275,1
stuttgarter Zeitung hat sich ihre Aufhebung erschrieben
durch einen
Ausfall auf den preußischen König wegen Massenbach. —
Gestern war ich von Beroldingen zu Mittag auf den Herzog und
275,5
die Herzogin Wilhelm eingeladen, die mich sehen
wollten. Jener
ist durch sein wolwollendes und gelingendes Arztsein in
der Gegend
berühmt; und sie wars in der Jugend durch eine
Schönheit, welche
dem Künstler Dannecker nicht blos den
Kopf verrückte, sondern auch
den Hut, den er im Weggehen von ihr immer queer
aufsetzte. Er275,10
sagte mirs gestern selber. Und sie
ist noch etwas schön! Aber wie
soll ich dir dieses
neckende Springen von Ideen und dieses unfürst
liche liebe Theilnehmen an ihren bürgerlichen Bekannten
(z. B.
Dannecker, Leibarzt König etc.) und dieses naive
Sprechen malen!
Ich saß unter dem Essen neben ihr. Sie lachte mich über
meine275,15
Lobreden 〈Schmeicheleien〉 aus, konnte
aber doch nicht Herrin
werden. Unten in der Laube bei dem
Kaffee, als gesagt wurde,
morgen sei der längste Tag und
ich sagte: „und heute ist der kürzeste“,
behauptete sie wirklich dasselbe vorher gesagt zu haben
in derselben,
nur anders gekehrten Schmeichelbeziehung.
Ihren Scherzen liegt275,20
aber schwerer Ernst, ja
Trauer zum Grunde, wie auch ihre Briefe
an Matthison
zeigen. In dieser Woche fahr’ ich mit einigen
Freunden, da er und sie so einluden, nach Stetten zu ihnen. — Der
Himmel schafft endlich seine Wolken weg und gibt bessere
Tage,
aber immer fehlt mir die rechte Gegend dazu.
Gleichwol will ich275,25
endlich fort; jetzo hab’ ich
das Meinige gesehen und genossen. So
viele Bildung (und
bester Gesellschaftton) hier ist, so fehlen mir doch
Männer wie die Heidelberger. Sage dem Kutscher (durchaus
der Sohn), er soll den 7ten July hier anlangen, aber zeitig genug
zum
Ausruhen seiner Pferde. — Indeß wiederhol’ ich diese Marsch275,30
ordre natürlich noch einmal. Bliebe
nur die Seeligmann etwas
länger: so bescheerte mir Gott einmal eine Rückfuhre.
Was bring’
ich der nun einmal daran gewöhnten Magd mit?
Eine Schürze,
wie ich mich von den Kindern erinnere, aber
welche? Und was ich
vollends den Kindern oder gar dir mitbringe, da weiß ich
meinem275,35
Leibe keinen Rath, wenn du mir nicht
einen gibst. Gib ihn ja. —
Ich bin froh, daß ich einen
Tag habe, wo ich wenigstens auf Mittag276,1
nicht eingeladen
bin — ob ich gleich zu Reinbeck gehen könnte. —
Mir wollen die vielen vornehmen Schüsselchen gar nicht
behagen;
eine derbe Wirthshausschüssel ist mir
gesünder. In Regensburg,
Nürnberg, Frankfurt ißt man besser. Aber das Bier ist
trefflich. —
276,5
Noch immer bin ich nach dem ersten male nicht
wieder bei Paulus
gewesen, theils wegen Einladungen, und wegen ersten
Gängen, die
ich noch bei manchen Gelehrten zu machen habe,
und theils weil
nicht einmal der schwache Zug des vorigen
Jahres mehr da ist; was
beide selber auch fühlen, da sie
mich nie eingeladen. — Eben war276,10
Reinbeck da und
lud mich zu seiner Hausmannskost ein, da die
nächsten Tage Wäsche ist. Ich soll dir einen Gruß von
ihm schreiben;
er ist dein Landsmann. — Der baireuter
Zeitungschreiber nimmt
Antheil an mir, da er, sobald ers kaum erfährt aus der
Stuttgarter
Zeitung, daß ich abgereiset und bei dieser bin, auch
meinen Mit276,15
bürgern es
hinterbringt, daß ich nicht zu Hause zu treffen sei. — —
Lasse ja O[tto]
und E[manuel]
recht viel oder alles lesen. Hätt’ ich
nur keinen solchen Ekel vor einer Wiedererzählung! —
Du hast doch meinen Brief vom 17ten erhalten? — Jetzo
peinigt276,20
mich schon wieder die Sehnsucht nach
euch, zumal bei der Abend
sonne, und
am Morgen. Die ersten 4 Wochen nach einer Zurück
reise sind mir beinahe lieber als die Reise selber. — Ich
kann dir
nicht sagen, wie der gealterte Matthison, der in
der künftigen Woche
mit der Herzogin nach der Schweiz reiset, und Reinbeck
und Haug
276,25
mich liebhaben und bedenken. — Vergiß ja meine
vielen Bitten in
diesem und dem vorigen Briefe nicht und
antworte mir recht bald.
— Grüße meinen Bruder. Barth
wird thun was er kann. Ich kann
nun nichts weiter dabei machen. — Meine gute Emma!
Deine
Briefchen geben mir viele Freude; und doch wäre sie noch
zu ver276,30
mehren durch eine
langsamere Hand und durch die Unterscheidung
zwischen das und daß. —
Lebe recht wol, meine theuere Karoline!, und mache dir ja recht
viele Freuden, damit ich mich nicht der meinigen schäme.
Herzlich
seien meine Freunde gegrüßt!
276,35
[Beilage] 277,1
Speise- und Trinkzettel.
laden) (nämlich bei dem 1ten Besuche)
11 Thee bei Matthison 277,5
12 Diner bei Beroldingen und Thée auf der Geisburg
14 Thee bei Md. Huber
15 Diner bei Reinbeck und Thée auf der Geisburg
17 Diner bei Cotta — Thée bei Md. Huber
18 Diner bei Reinbeck — Thée bei geheimen Rath Hartmann 277,10
19 Diner bei dem baierschen Gesandten — Fahrt nach der Silber-
burg
20 Diner bei Beroldingen — Thée bei Cotta
21 Diner bei Reinbeck
22 Thee bei Matthison
Für dich allein.
Dein letzter Brief hat mich wieder etwas erfreuet, obgleich noch
Irrthümer genug darin sind. Nicht von Außen sondern blos
von277,20
dir kam hier wie in Frankfurt meine
anfängliche Traurigkeit her.
Jetzo genieß’ ich schon heiterer, da ich wieder auf jene
himmlische
Zeit rechnen darf, die ich immer nach
meiner Ankunft genossen. Ich
komme auch stets gegen
andere, gegen Kinder und Baireuter besser
zurück, weil ich unterwegs mein von mir geschriebenes
Grundsätze-
277,25
Buch (du kennst es wol gar
nicht) recht durcharbeite und einwurzeln
lasse. — Einen
Mann bringt nichts mehr auf als Grundlosigkeit und
Leiden
für ein Etwas das schon vor 2 Jahren ein Nichts war, jetzo
aber gar noch mehr vernichtet ist. Ich denke weit wärmer an einige
in Frankfurt und Offenbach als an S., gegen die ich vielleicht jetzo,
277,30
da ich nur Einmal bei ihr war, fast zu hart bin,
wiewol mich die
Menge meiner hiesigen Bekanntschaften
entschuldigt. — Du hälst
leider meine ertragende Ruhe für
Kälte, indeß sie nur Frucht meiner
Selberbezwingung und
Liebe ist, zuweilen auch die Scheu vor heftigen
Erklärungen, die ich kaum in der Liebe mehr begehre. — Sage mir277,35
ja nichts hartes; ein Brief nimmt gar zu viel und zu
lange, bis ein278,1
zweiter wieder gibt. — Und so lebe froh,
liebe Seele, und empfange
mich so wie sonst und mit der
Liebe und Freude, die ich mitbringe.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Emma und Caroline Richter. Stuttgart, 20. Juni 1819 bis 22. Juni 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_534
Kommentar (der gedruckten Ausgabe)
SiglenH: Berlin JP. 10 S. 8°. J 1: Wahrheit 8, 186×. J 2: Nerrlich Nr. 173× u. 164, 1. Absatz (2. s. Nr. 434). B: IV. Abt., VII, Nr. 188. A: IV. Abt., VII, Nr. 193. 274,14 schönen Gestalt] nachtr. 15 zu] aus nach 20 gegangen] aus gingen 22 Bösen,] danach (ich habe Niemand gefunden, der im Gespräch nur eine witzige Antithese gemacht hätte) — J 1 (wohl wieder Förstersche Inter polation aus dem Tagebuch, wie oben zu 271,27 ) 23 setzen sie sich] aus sitzen sie 24 ab] nachtr. 35 unterstellen] aus stellen 275,3 Massenbach] aus Massenbachs 6 Jener]aus Er 11 etwas] nachtr. 19 behauptete] davor gestr. hatte 25 immer] davor gestr. noch 29 July] aus Juny 35 f. mein em Leibe] aus meines Leids [!] 276,10 beide] aus sie 14 kaum] aus nur 15 bei] aus neben 16 hinterbringt] aus nicht verfehlt 277,7 14] aus 13 10 Diner] davor gestr. Mittag 28 Leiden] davor gestr. eingebildetes jetzo] aus jetzt 31 nur Einmal bei ihr war] aus gar nicht zu ihr gehe 32 hälst] aus hält [!]
274,11 Joh. Heinr. Dannecker (1758—1841), Bildhauer, Freund Schillers. Tautphöus war in zweiter Ehe verh. mit Maria von Sarasin-Manskopf aus Frankfurt a. M. (1765—1862); die Tochter, Antonie Pauline (geb. 1794), war später Ehrenstiftsdame des St. Anna Ordens in München. 25 Cottas Frau: Wilhelmine, geb. Haas von Laufen (gest. 1821). 30 Otto hatte auch Beziehungen zu Cotta an geknüpft und Beiträge zum Morgenblatt geliefert. 275,3 Der preußische Oberst Chr. v. Massenbach (1758—1827) war 1817 verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt worden, das ihn wegen angeblich beab sichtigten Landesverrats zu 14 Jahren Gefängnis verurteilte. 5ff. Her zog Wilhelm Friedrich Philipp von Württemberg (1761—1830), Feldmarschall, seit 1800 verheiratet mit Friederike Franziska Wilhel mine, geb. Komtesse Rhodis von Tundersfeld (geb. 1777), Vater von 4 Kindern. 14 Einen Leibarzt König gab es in Stuttgart nicht; vermutlich ist Wilhelm Friedrich Ludwig gemeint (1790—1865), der 1816 Leibarzt des Königs Friedrich wurde; s. Schwäbische Lebensbilder, Bd. V, Stuttgart 1950, S. 228ff. 276,28 Barth: vgl. Nr. 525†. 31f. Unterscheidung zwischen das und daß: vgl. Br. II, Nr. 282 und I. Abt., III, 187f. 277,19ff. Karoline hatte in B zugegeben, daß sie in der letzten Zeit verstimmt und unartig gewesen sei, sich aber damit gerechtfertigt, daß sie von J. P. oft hart und lieblos behandelt worden sei und die süße Überzeugung seiner Treue (mit dem Herzen) eingebüßt habe. 25f. Grundsätze-Buch: die „Via recti“; vgl. Bd. VI, Nr. 494, 201,23†. 29f. Frankfurt und Offenbach: vgl. 207,14ff., 215,5f.