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Korrespondenz

Von Jean Paul an Emma und Caroline Richter. Stuttgart, 20. Juni 1819 bis 22. Juni 1819.

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Stuttgart d. 20. Jun. 〈Sonntag〉 1819

Das ganze Jahr schreib’ ich fast nicht so viele Briefe als unterwegs und zwar an dich, liebe Karoline; für mich unter allen Schreibereien die behaglichste; und du kannst künftig der Welt mit ihnen zeigen, daß ich einen leichten Stil habe. — Gesund bin ich ganzNur der Ausschlag auf der Stirn dehnt sich aus und sticht erbärmlich gegen meine andern Reize ab.; aber das ewige Herumtrinken (siehe nur den Speisezettel) verwüstet doch am Ende; zum Glücke hab’ ich mir noch nicht das kleinste Übertreten vorzuwerfen. Gestern aß ich bei dem baierschen Gesandten Tautphaeus, wo auch der gefällige angenehme preußische war, und die Huber, Dannecker, Matthison etc. Mit der Frau — die ein sehr schönes freundliches Gesicht mit seltsam-schön geschnittenen Lippen, doch nicht vorzüglicher Geist noch besondere Empfindsamkeit auszeichnen — und mit der Tochter und noch einer schönen Gestalt, deren Namen ich vergessen, fuhr ich zu dem Konzert auf der Silber burg; und ich hab’ es besonders zu rühmen, daß sie vor meiner Thüre halten, mich herausspringen und den heulenden Pudel oben herunterbringen ließ. Auf der Silberburg fand ich neulich zuerst, daß ich den weiblichen Gesichtern (hohen und niedrigen) früher bei dir Unrecht gethan und daß recht viele schöne vor mir vorbei gegangen. Die Weiber hier find’ ich — und eben so die Männer — einfach, schlicht, ohne schreiende Farben weder im Guten noch Bösen, anspruchlos, sogar im Putze.aber ungeheuere Damenhüte, unter die ein Mann, der rückwärts ginge, sich im Regen bei den Trägerinnen unterstellen könnte. Leider setzen sie sich und die Männer stellen sich bei dem Thée zusammen; aber ich wehr’ es sehr ab und stellte neulich dem Cotta seine eigne Frau vor, damit er höflich dem Halbzirkel näher käme. — Von Cotta hab ich durch Reinbeck und Haug das Bild eines eiteln Geizhalses erhalten; und er ist nur gegen andere durchaus nicht so, wie er bisher gegen mich im Handel gewesen. Ich thu ihm keinen Tritt entgegen, und komme nur eingeladen, welches heute das 2te mal ist.Es war ein Thee, und zwar ein lumpiger; kein Tropfen Punsch! Ich werde Otto wichtige Züge von ihm erzählen; — z. B. er macht selber den Korrektor und quält andere, z. B. die Huber, zu beiläufigen Korrekturen. — Die neue stuttgarter Zeitung hat sich ihre Aufhebung erschrieben durch einen Ausfall auf den preußischen König wegen Massenbach. —

Montag

Gestern war ich von Beroldingen zu Mittag auf den Herzog und die Herzogin Wilhelm eingeladen, die mich sehen wollten. Jener ist durch sein wolwollendes und gelingendes Arztsein in der Gegend berühmt; und sie wars in der Jugend durch eine Schönheit, welche dem Künstler Dannecker nicht blos den Kopf verrückte, sondern auch den Hut, den er im Weggehen von ihr immer queer aufsetzte. Er sagte mirs gestern selber. Und sie ist noch etwas schön! Aber wie soll ich dir dieses neckende Springen von Ideen und dieses unfürstliche liebe Theilnehmen an ihren bürgerlichen Bekannten (z. B. Dannecker, Leibarzt König etc.) und dieses naive Sprechen malen! Ich saß unter dem Essen neben ihr. Sie lachte mich über meine Lobreden 〈Schmeicheleien〉 aus, konnte aber doch nicht Herrin werden. Unten in der Laube bei dem Kaffee, als gesagt wurde, morgen sei der längste Tag und ich sagte: „und heute ist der kürzeste“, behauptete sie wirklich dasselbe vorher gesagt zu haben in derselben, nur anders gekehrten Schmeichelbeziehung. Ihren Scherzen liegt aber schwerer Ernst, ja Trauer zum Grunde, wie auch ihre Briefe an Matthison zeigen. In dieser Woche fahr’ ich mit einigen Freunden, da er und sie so einluden, nach Stetten zu ihnen. — Der Himmel schafft endlich seine Wolken weg und gibt bessere Tage, aber immer fehlt mir die rechte Gegend dazu. Gleichwol will ich endlich fort; jetzo hab’ ich das Meinige gesehen und genossen. So viele Bildung (und bester Gesellschaftton) hier ist, so fehlen mir doch Männer wie die Heidelberger. Sage dem Kutscher (durchaus der Sohn), er soll den 7ten July hier anlangen, aber zeitig genug zum Ausruhen seiner Pferde. — Indeß wiederhol’ ich diese Marsch ordre natürlich noch einmal. Bliebe nur die Seeligmann etwas länger: so bescheerte mir Gott einmal eine Rückfuhre. Was bring’ ich der nun einmal daran gewöhnten Magd mit? Eine Schürze, wie ich mich von den Kindern erinnere, aber welche? Und was ich vollends den Kindern oder gar dir mitbringe, da weiß ich meinem Leibe keinen Rath, wenn du mir nicht einen gibst. Gib ihn ja. — Ich bin froh, daß ich einen Tag habe, wo ich wenigstens auf Mittag nicht eingeladen bin — ob ich gleich zu Reinbeck gehen könnte. — Mir wollen die vielen vornehmen Schüsselchen gar nicht behagen; eine derbe Wirthshausschüssel ist mir gesünder. In Regensburg, Nürnberg, Frankfurt ißt man besser. Aber das Bier ist trefflich. — Noch immer bin ich nach dem ersten male nicht wieder bei Paulus gewesen, theils wegen Einladungen, und wegen ersten Gängen, die ich noch bei manchen Gelehrten zu machen habe, und theils weil nicht einmal der schwache Zug des vorigen Jahres mehr da ist; was beide selber auch fühlen, da sie mich nie eingeladen. — Eben war Reinbeck da und lud mich zu seiner Hausmannskost ein, da die nächsten Tage Wäsche ist. Ich soll dir einen Gruß von ihm schreiben; er ist dein Landsmann. — Der baireuter Zeitungschreiber nimmt Antheil an mir, da er, sobald ers kaum erfährt aus der Stuttgarter Zeitung, daß ich abgereiset und bei dieser bin, auch meinen Mit bürgern es hinterbringt, daß ich nicht zu Hause zu treffen sei. — — Lasse ja O[tto] und E[manuel] recht viel oder alles lesen. Hätt’ ich nur keinen solchen Ekel vor einer Wiedererzählung! —

Dienstags

Du hast doch meinen Brief vom 17ten erhalten? — Jetzo peinigt mich schon wieder die Sehnsucht nach euch, zumal bei der Abendsonne, und am Morgen. Die ersten 4 Wochen nach einer Zurückreise sind mir beinahe lieber als die Reise selber. — Ich kann dir nicht sagen, wie der gealterte Matthison, der in der künftigen Woche mit der Herzogin nach der Schweiz reiset, und Reinbeck und Haug mich liebhaben und bedenken. — Vergiß ja meine vielen Bitten in diesem und dem vorigen Briefe nicht und antworte mir recht bald. — Grüße meinen Bruder. Barth wird thun was er kann. Ich kann nun nichts weiter dabei machen. — Meine gute Emma! Deine Briefchen geben mir viele Freude; und doch wäre sie noch zu ver mehren durch eine langsamere Hand und durch die Unterscheidung zwischen das und daß.

Lebe recht wol, meine theuere Karoline!, und mache dir ja recht viele Freuden, damit ich mich nicht der meinigen schäme. Herzlich seien meine Freunde gegrüßt!


Richter
[Beilage] Speise- und Trinkzettel.
10ten Diner bei Beroldingen — Thée bei der Paulus (uneinge laden) (nämlich bei dem 1ten Besuche) 11 Thee bei Matthison 12 Diner bei Beroldingen und Thée auf der Geisburg 14 Thee bei Md. Huber 15 Diner bei Reinbeck und Thée auf der Geisburg 17 Diner bei Cotta — Thée bei Md. Huber 18 Diner bei Reinbeck — Thée bei geheimen Rath Hartmann 19 Diner bei dem baierschen Gesandten — Fahrt nach der Silber burg 20 Diner bei Beroldingen — Thée bei Cotta 21 Diner bei Reinbeck 22 Thee bei Matthison
[andere Beilage]
Dienstags
Für dich allein.

Dein letzter Brief hat mich wieder etwas erfreuet, obgleich noch Irrthümer genug darin sind. Nicht von Außen sondern blos von dir kam hier wie in Frankfurt meine anfängliche Traurigkeit her. Jetzo genieß’ ich schon heiterer, da ich wieder auf jene himmlische Zeit rechnen darf, die ich immer nach meiner Ankunft genossen. Ich komme auch stets gegen andere, gegen Kinder und Baireuter besser zurück, weil ich unterwegs mein von mir geschriebenes Grundsätze Buch (du kennst es wol gar nicht) recht durcharbeite und einwurzeln lasse. — Einen Mann bringt nichts mehr auf als Grundlosigkeit und Leiden für ein Etwas das schon vor 2 Jahren ein Nichts war, jetzo aber gar noch mehr vernichtet ist. Ich denke weit wärmer an einige in Frankfurt und Offenbach als an S., gegen die ich vielleicht jetzo, da ich nur Einmal bei ihr war, fast zu hart bin, wiewol mich die Menge meiner hiesigen Bekanntschaften entschuldigt. — Du hälst leider meine ertragende Ruhe für Kälte, indeß sie nur Frucht meiner Selberbezwingung und Liebe ist, zuweilen auch die Scheu vor heftigen Erklärungen, die ich kaum in der Liebe mehr begehre. — Sage mir ja nichts hartes; ein Brief nimmt gar zu viel und zu lange, bis ein zweiter wieder gibt. — Und so lebe froh, liebe Seele, und empfange mich so wie sonst und mit der Liebe und Freude, die ich mitbringe.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Emma und Caroline Richter. Stuttgart, 20. Juni 1819 bis 22. Juni 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_534


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 539. Seite(n): 274-278 (Brieftext) und 434-435 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 10 S. 8°. J 1: Wahrheit 8, 186×. J 2: Nerrlich Nr. 173× u. 164, 1. Absatz (2. s. Nr. 434). B: IV. Abt., VII, Nr. 188. A: IV. Abt., VII, Nr. 193. 274,14 schönen Gestalt] nachtr. 15 zu] aus nach 20 gegangen] aus gingen 22 Bösen,] danach (ich habe Niemand gefunden, der im Gespräch nur eine witzige Antithese gemacht hätte) — J 1 (wohl wieder Förstersche Interpolation aus dem Tagebuch, wie oben zu 271,27 ) 23 setzen sie sich] aus sitzen sie 24 ab] nachtr. 35 unterstellen] aus stellen 275,3 Massenbach] aus Massenbachs 6 Jener]aus Er 11 etwas] nachtr. 19 behauptete] davor gestr. hatte 25 immer] davor gestr. noch 29 July] aus Juny 35 f. mein em Leibe] aus meines Leids [!] 276,10 beide] aus sie 14 kaum] aus nur 15 bei] aus neben 16 hinterbringt] aus nicht verfehlt 277,7 14] aus 13 10 Diner] davor gestr. Mittag 28 Leiden] davor gestr. eingebildetes jetzo] aus jetzt 31 nur Einmal bei ihr war] aus gar nicht zu ihr gehe 32 hälst] aus hält [!]

274,11 Joh. Heinr. Dannecker (1758—1841), Bildhauer, Freund Schillers. Tautphöus war in zweiter Ehe verh. mit Maria von Sarasin-Manskopf aus Frankfurt a. M. (1765—1862); die Tochter, Antonie Pauline (geb. 1794), war später Ehrenstiftsdame des St. AnnaOrdens in München. 25 Cottas Frau: Wilhelmine, geb. Haas von Laufen (gest. 1821). 30 Otto hatte auch Beziehungen zu Cotta angeknüpft und Beiträge zum Morgenblatt geliefert. 275, 3 Der preußische Oberst Chr. v. Massenbach (1758—1827) war 1817 verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt worden, das ihn wegen angeblich beabsichtigten Landesverrats zu 14 Jahren Gefängnis verurteilte. 5ff. Herzog Wilhelm Friedrich Philipp von Württemberg (1761—1830), Feldmarschall, seit 1800 verheiratet mit Friederike Franziska Wilhelmine, geb. Komtesse Rhodis von Tundersfeld (geb. 1777), Vater von 4 Kindern. 14 Einen Leibarzt König gab es in Stuttgart nicht; vermutlich ist Wilhelm Friedrich Ludwig gemeint (1790—1865), der 1816 Leibarzt des Königs Friedrich wurde; s. Schwäbische Lebensbilder, Bd. V, Stuttgart 1950, S. 228ff. 276, 28 Barth: vgl. Nr. 525†. 31f. Unterscheidung zwischen das und daß: vgl. Br. II, Nr. 282 und I. Abt., III, 187f. 277, 19ff. Karoline hatte in B zugegeben, daß sie in der letzten Zeit verstimmt und unartig gewesen sei, sich aber damit gerechtfertigt, daß sie von J. P. oft hart und lieblos behandelt worden sei und die süße Überzeugung seiner Treue (mit dem Herzen) eingebüßt habe. 25f. Grundsätze-Buch: die „Via recti“; vgl. Bd. VI, Nr. 494, 201, 23†. 29f. Frankfurt und Offenbach: vgl. 207, 14ff., 215, 5f.