Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 3. August 1819 bis 5. August 1819.
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287,26
Endlich bekam ich dein lange ersehntes Blatt, das mir immer wie
gewöhnlich, manche Besorgnisse widerlegen oder nehmen
mußte.
Schweigen kann wol der Freund, wenn man nur
aber weiß287,30
warum. — Ohne meinen Briefküchenzettel (briefliche
Marsch
und Springroute) neben mir
könnt’ ich mit dem Auftragen meiner
Brocken bei dir, gar
nicht fertig werden.
So komme und fahre denn alles durcheinander! — Stuttgart
288,1
wurde mir je länger, je lieber. Die guten Menschen da
können nichts
für die Nässe und die Gluth, die mir und
ihnen so vieles verdarben.
Den alten Hartmann sammt Frau
und schönen Mädchen kann ich
gar nicht genug loben und lieben; und seine Tochter sammt
Mann
288,5
(Reinbeck) nahmen vor Liebe 2 mal Abschied von mir,
wiewol beide
vorher noch etwas Innigeres für mich gezeigt, daß sie
mich nämlich
zum unterschreibenden Mitzeugen ihres
Testaments gewählt
〈bestellt〉. So gehörte man auf einmal
in Haus und Herz. — Von
Matthisson wollen wir nicht viel
reden, zumal da ers selber nicht
288,10
thut; Gott geb’ ihm neue Gaben; inzwischen ist er
überall und doch
blos schwach. — Einer Weisserschen Abendeinladung hab’ ich, von
Haug gequält, mich bequemt, aber der zweiten nicht, ob
er gleich
in Einem fort mich um mich her verehrt und noch dazu
aufrichtig
und noch dazu mit mir (das Höhere der
Anschauung ausgenommen)288,15
ziemlich harmonisch
spricht; aber mit seinem Affengesicht könnte
mich nur
eine Kanonenkugel aussöhnen, die ⅔ davon ausgestrichen
hätte. Es gibt wirklich Häßlichkeiten, welche keine Gewohnheit
übertünchen oder übermalen kann. —
Der Herzog Wilhelm ist leicht geschildert als ein Mann voll
handelnder Arzeneikunde, Physik und Menschenliebe; aber
die Frau!
Sie lebt und wohnt 〈bettet sich〉 auf den weichen
Blütenspitzen der
Phantasie und fällt daher immer
herunter — der wahre Unbestand
in allem, zumal in Freude
und Trauer — sie bekannte mir alle ihre288,25
Fehler und
deren Quellen, (was aber zu nichts fruchtet) und sagte,
Matthisson sei ihr zum Rathen nicht kräftig genug. Mich gewann
sie sehr lieb, ich mußte ihr aber zuletzt doch einige
Besuche abschlagen.
Sie wird mir schreiben. — Himmel! wie
schön und groß sind die
Stuttgarter Mädchenaugen! Die Hartmann bat mir einen gan-
288,30
zen weiblichen Augen Thée zusammen. —
Eben donnerts. So wirds den ganzen Monat dauern, aber
immer mit Übergewicht
schöner Tage. — Schreibe mir doch Ansang
und Dauer des
Rudolstädter Vogelschießens, dem ich vielleicht zu-
289,1
fliegen könnte, zumal da Göthe nur Eine Tagesreise davon wohnt;
denn ich muß noch die letzte Ruine meiner literarischen Geisterwelt
aufsuchen, eh’
ich ihr in die fernere folge. — Wie wol würde mir das
geliebte Angesicht deines Bruders und seine Rede über euch alle thun.
289,5
— Zu Ostern kommt der dritte Theil meiner
Herbstblumine; und
mein verdoppelter Aufsatz über die Doppelwörter mit
Wider-
legungen meiner Gegner, z. B. Grimms
heraus, der mir im Hermes
gar nicht auf der Achillesferse ist. Cotta ist der alte
Bereitwillige
gegen mich, und thut was ich eben will. — Die Paulus versichern,
289,10
Schlegel habe nie ein Wort wider
mich gesprochen; wie reimest
du dieß mit deinen Nachrichten? Grüße den alten guten
Paulus,
dem nur sein Kopf einen hellen Himmel bereitet. Auch
irrst du ganz,
wenn du Schlegeln
meinen weniger hellen in Heidelberg schuld
gibst. Nein, 100 vorige Freuden, Weiber, Musikalien,
Spazier289,15
fahrten,
Gesellschaften etc.etc. fehlten neulich. — Es kann dir noch nicht
hinlänglich bekannt sein, daß die Herzogin Wilhelm, die
meinem
Ponto einen Tempel versprach, wenn ich ihn nach Stetten brächte,
einen grünen in der Größe einer kleinen Laube, aus
grünen Zweigen
mit einer Rosenkuppel, mit einer Pforte
zur rosenumkränzten289,20
Mooswiege, ins Zimmer tragen
ließ und daß der Hund vor dem
ganzen Hofe sich ruhig auf
mein Geheiß in die Tempel-Wiege legte.
Später spielten
die 3 Fürstenkinder darin; und noch später hatte der
Hund sein Rheimser Salbölfläschchen bei sich und that
etwas
daraus an den Tempel. — Die christelnd-süßelnde Hornische Kritik
289,25
misfällt mir sehr. — Was hörst du von mir aus dem
lieben Stutt-
gart? — Mein Schwiegervater,
der geheime Obertribunalrath
Meier aus Berlin, war auf seiner Badereise bei uns; du
hättest den
liebenden aber schwachfüßigen Siebziger und die
Seeligkeit aller
Herzen um ihn sehen sollen. — Lebe wol,
mein geliebter Heinrich,289,30
und grüße die Geliebten
in deinem Hause; und dann die andern
außerhalb, die mir gut sind, besonders Sophie Dapping und die
Thiedemann.
Verzeih meinen Arbeiten ein langes künftiges Schweigen.
289,35Zitierhinweis
Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 3. August 1819 bis 5. August 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_555
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin acc. ms. 1906. 204 (derzeit BJK). 4 S. 4°. K 1 (nach Nr. 556): Voß ab den 8 [aus 7] August. K 2 (von Karolinens Hand): Berlin JP. i (nach K 2): Wahrheit 8, 191×. B: IV. Abt., VII, Nr. 198? A: IV. Abt., VII, Nr. 212. 288,18 welche] die K 1 23 auf] davor gestr. über H 34 Anfang] aus Tag H 35 einheizen] aus einfeuern H 289,3 Ruine] Reliquie K 1 5 seiner H 13 sein] aus der H bereitet] aus gibt H 20 zur] aus in eine H 23 Späterhin K 1
288, 30 f. Vgl. Jean Pauls Stuttgarter Tagebuch v. 1. Juli 1819: Abds. Thee und Essen bei geheimen Rath Hartmann — die 5 guten Mädchen, wovon mir jede eine ½ Tasse Thee bringen mußte. Eine der Töchter, Marietta, spätere Zöppritz, hat in „Erinnerungen einer Stuttgarterin“ im Stuttgarter Neuen Tagblatt v. 16. Febr. 1894 diesen Besuch Jean Pauls anschaulich geschildert. 289, 1 Das Rudolstädter Vogelschießen hatte J. P. früher schon einmal besucht, s. Br. III, Nr. 301. 8 Grimm im Hermes: Bd. II, S. 27—33; s. I. Abt., XVI, Einl. S. XXXIII. 16—25 Vgl. Persönl. Nr. 276, S. 241f. 24 Rheimser Salbölfläschchen: vgl. I. Abt., XIII, 120,3 .