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Korrespondenz

Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 26. November 1819 bis 2. Dezember 1819.

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Baireut d. 26ten Nov. 1819

Mein geliebter Heinrich! Wie wirst du mich deuten? Beinahe deine Gefühle hab’ ich über mein Schweigen ausgestanden. Wanke nur aber nie dein Vertrauen auf meine goldfeste Liebe, würden auch meiner Briefe — wie dieß wirklich gegen andere geschieht und täglich zunimmt — vierteljährlich wenigere. —

Meine Frau ist vorgestern nach Dresden zu ihrer Schwester ge reiset, um nach Berlin zu gehen und die Zimmer ihres geliebten Vaters zu sehen; denn er selber ist am 1ten nach dem Besuche des Schauspieles und einem heitern Tage in der Nacht durch einen Schlagfluß — hinübergegangen; wie eine Sonne am Gleicher, ging er unter ohne Dämmerung und auf einmal. Gott sei Dank, daß ich ihn noch einmal sehen und erfreuen und recht lieben konnte. Meine kühne Caroline ließ sich diese ganz einsame Winterreise des Schmerzes, schon aus Liebe für die herrliche Stiefmutter, nicht nehmen und wehren.

Mein Max ist seelig in München — beinahe der Hausfreund von Thiersch, Schlichtegroll und vieler — und in allem mir noch mehr Schönes haltend als er versprochen. Deiner gedenkt er liebend und verehrend in seinen Briefen oft. — Die Herzogin von Kurland, deren Tochter (die Hohenzollern) mir meinen Aufsatz abgeschrieben, sprach in ihrem Heidelberger Briefe mit Bedauern davon, daß sie dich stündlich erwartet habe und daß sie dich verreiset geglaubt. Du hättest ohne Weiteres zu ihr gehen sollen.

30ten Nov.

Himmel! Schon der dreißigste!

d. 2ten Dec.

Meine Besorgnis der deinigen läßt mich nicht länger ruhen; morgen soll der Brief fort, so mager er auch abreise. Das Werkchen deines Vaters hat hier jeden Kräftigen — zumal in solcher politischen Zwergen- und Fastenzeit — gestärkt. Der herrlichste Löseschlüssel zum Werke und zum Gemüthe ist S. 47 die Anrede an Stolberg „wie damals, mein Stolberg, so wird uns sein etc.etc.“ (Ich habe das Büchlein nicht zu Hause) — und Seite 102. Wie ein Fruchtregen unter dem Donner erquickt jene Anrede den Leser und zeigt ihm weit in die ganze Seele des Verfassers hinein. Gegen den Adel hat er überall Recht, obwol nicht immer mit den nämlichen Waffen. St[olberg]s Übertritt kann doch nur als Irrthum erscheinen, und sogar sein Verheimlichen und Fortpflanzen nur als dessen Folge, nicht als Sünde Paulus führt sein Schwert treffend gegen den Pharisäer-Papisten. Alle meine lieben Paulus grüßt mein Herz. . — Auch hier ist die Vossische Prose ein Goldbarren für den deutschen Sprachschatz, so wie euer Gesammt Shakespeare uns ihn und die Sprache zugleich erneuert. Sogar in den Noten (z. B. 6465) erfreuet eine neue Übersetzung. Deine Konjekturen für den Text allein setzen schon den besten Übersetzer voraus. Nur wollt’ ich, im Texte würde immer auf die Noten hinten mit einer kleinen Nummer hingewiesen; denn man schlägt doch lieber die neue Nummer 〈Note〉 nach als den alten Text zurück. Meine ärmlichen Bemerkungen — obwol auf einem Blättchen angedeutet — muß ich wieder aufheben, wenn der Brief fortsoll. Aber, mein guter Heinrich, wie könnt’ ich öffentlich, bei dem Bewußtsein meines philologischen Abstandes von euch allen, eines Urtheils mich erdreisten? Blos meine Freude über das Beschenken der deutschen Sprache darf ich etwa zeigen; und kann ichs wo, so thu’ ichs auch. — Schämt sich der ¾ katholische Perthes nicht, einen Löwen, der gerade immer Lebendiges angreift, wie ja hier 2 Lebendige oder eine ganze Adelschaft — und so auch früher — zu einem Raubthiere des Todten zu machen? — Dein Vater wird hier nicht einen Richter suchen, sondern selber einen machen. — Deinem geliebten Bruder bleib’ ich zwar die Antwort schuldig, aber wahrlich nicht lange. — Ich antworte jetzo fast niemand mehr, zumal da ich meinem Max immer antworten muß, wozu nun jetzo gar die auf 5 Wochen ausbleibende Frau noch kommt. — Mein um die Hälfte vermehrtes Büchelchen über die Doppelwörter druckt nun Cotta. Der philologische Koloß in den germanischen Sprachen — Grimm — vor dessen Sprachenkunde und Sprachgeist ich mich willig beuge, hat mir doch sein Widerlegen unerwartet erleichtert. Du wirsts sehen. So auch, aber doch weniger, Thiersch, der geistige Wol thäter meines Sohns. — Eine Dlle Zimmern aus H[eidelberg] schrieb schön an mich, aber unbeantwortet; was ist sie? Verbirg aber diese Frage. — Allen den geliebten Mädchen neben Sophie D[apping] , die im August äußerlich um meinen Schatten tanzten, und innerlich um wärmere nähere Wesen, bringe meinen heissesten Dank, um dessen Überbringen ich dich freilich beneide. — Der Hesperus reiset noch auf der Schneckenpost der Buchhändlergele genheit, indeß kommt er doch bei dir so gewis an als dein Greisenalter. — Grüße, grüße alle deine und meine Geliebten und Liebenden, Vater und Mutter zu allererst! Nehm’ ich mehr Papier: so nehm’ ich mir mehr Zeit und du, mein ewig geliebter Heinrich, wartest dann länger.


J. P.
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 26. November 1819 bis 2. Dezember 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_602


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 607. Seite(n): 315-318 (Brieftext) und 448-449 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Landesbibl. Eutin. 6 S. 8°. K 1: Voß. 26 Nov. ab 3 Dec. K 2 (von Karolinens Hand): Berlin JP. J: Voß S. 86×. B: IV. Abt., VII, Nr. 219. A: IV. Abt., VII, Nr. 238. 316,17 verehrend] aus ehrend H 24 2ten] aus 1ten H 30 „wie bis sein pp.“] aus bei künftigem Wiedersehen nach dem Tode H 31 Fruchtregen] aus Regen H 317,2 für den deutschen Sprachschatz] aus im deutschen Sprachschatze H Gesammt-] aus Gemein- H 4 eine neue] aus die H 8 zurück] nachtr. H 19 einen machen] aus einer sein H, einer sein K 1 23 5] aus 6 H 26 Sprachenkunde] aus Sprachkunde H 35 reiset] aus ist H Schneckenpost] aus Post H 318,1 gewiß K 1

Karoline war am 26. Nov. früh abgereist; das Anfangsdatum des Briefs gilt also wohl nur für den 1. Absatz. 316, 17—21 Vgl. Nr. 584†; Voß hatte wohl absichtlich die Herzogin gemieden, deren französische Sympathien und etwas leichtfertiger Lebenswandel seinen Eltern vermutlich anstößig waren. 26ff. Vgl. Nr. 589†. Die Anrede an Stolberg lautet: Die Anrede, die Jean Paul meint, lautet: „wie damals, mein Stolberg, so wird uns sein, wann du in der Morgen röthe des ewigen Tags aus deiner viel schwereren Betäubung erwachst.“ 317, 4 Es ist wohl eine Note auf S. 646 des 3. Bandes der Shakespeare-Übersetzung gemeint, wo Voß in dem Vers Lear IV, 6: „O undistinguish’d space of woman’s will!“ pace statt space annimmt und demgemäß übersetzt und erläutert. 15—19 Perthes hatte in der Allgemeinen Zeitung v. 23. Nov. 1819, Beilage Nr. 185, in einer vom 5. Nov. datierten „Zurechtweisung“ Vossens Anwürfe gegen seinen (Perthes’) mit Stolberg befreundeten verstorbenen Schwiegervater Matthias Claudius scharf zurückgewiesen. 25—27 Grimm: s. das 5. Postskript der Doppelwörter-Abhandlung (I. Abt., XVI, 234ff.). 29 Dlle Zimmern: s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 223. 31—34 Vgl. 237 , 28—31 †.