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Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 21. September 1809 bis 4. Oktober 1809.

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Bayreuth d. 21. Sept. 1809

Deine liebe Handschrift fuhr wie ein Sonnenblick aus dem Winterhimmel in mein Aug’ und Herz, lieber Heinrich. Ich er freue mich, daß du mich nicht ganz vergessen hast, und will daher nicht nachwägen, wie groß das Stück ist, das dir von mir geblieben. Eigentlich sollten Freunde in dieser dumpfen Zeit sich näher an einander drängen, um gegen die Verflüchtigung der Plane und Aussichten und der äußern Thätigkeit sich durch die innere der Liebe und der darin zurückwirkenden Vergangenheit einen festen LebensKern zu bewahren. Es geschieht aber gerade das Gegentheil; die Menschen lieben einander weniger, wenn sie neben einander nur zuzuschauen haben.

Ich folge jetzt deinem Briefe.

In meinen sehr ernsten Daemmerungen (sie sind die fortgesetzte Friedens Predigt) wirst du mehr für dich finden als in meinen komischen Werken, welche dich, glaub’ ich, zu wenig ansprechen wie mich viel. Ich erlaubte Cotta — sie sind schon vom August 08 bis März 09 geschrieben — eine Verspätung der Herausgabe bis zur Ostermesse 1810.Sie sollen doch schon im jetzigen Meßkatalog stehen. — Nicht am Verlegen, sondern am Machen deiner opp. omn. fehlts. Cotta nähme sie mit eben so viel Ver gnügen als du nachher über seine ganze liberale Handlungs Weise haben würdest. Auch eigentlich nicht am Machen deiner Werke fehlts; viele sind schon gemacht, so wie deine Briefe, aus denen du geben willst; Pensées à  la Pascal (die à  la Montaigne weniger) kommen sogleich mit ihrer ganzen besten Form auf die Welt. Du bist wirklich der jetzigen sich selber immer durchsichtiger aushölenden Zeit deine Fülle und Aufopferung schuldig sogar (im Zeitmangel durch Krankheit) auf einige Kosten der Form. Schreibe nur nicht zu viele Briefe — von mir an bis zu Goethe —; mit dem nämlichen Magen, Kopfe, Auge (es ist hier blos vom Körper-Hemmschuh an Apollons oder Psychens Wagen die Rede) hättest du eben so gut 16 Seiten für den Druck, als 4 für Goethe ausarbeiten und geben können.

Aber wie Johnson Gespräche über Lesen und Schreiben 35Aber, hoff’ ich, mit Ausnahme der Empfängnis der Kunstwerke und Systeme und mit Ausnahme der Darstellung von deren Lebens- und Seelen Stellen. setzte, so du (wahrscheinlich) Briefe über Bücher; — und in Rücksicht des Genusses habt ihr beide Recht. Schriftstellerei muß man sich zuletzt zur Pflicht machen; hätt’ ich indeß diesen Grundsatz nicht, so wüßt ich nichts amüsanteres als Briefe und Gespräche. Du als Präsident und Weltmann und Thée-Geber — den meisten Arzneien wird Thée nachgetrunken —

d. 24ten

„wirst zum Doppelgenusse des Gesprächs verlockt und genöthigt.“ So werd’ ich haben fortfahren wollen. Über Werner bin ich deiner ästhetischen und philosophischen Meinung. Am tollsten wurd’ ich über seinen Luther; daß er aus Luther und Elisabeth solche zer floßne Fratzen-Schatten gemacht, dafür hätt’ ihm Luther seinen ächten Band Tischreden an den Kopf geworfen. Der karfunkelnde Famulus allein ist ächt theatralisch, wenn er durch einen guten Schauspieler, einen Weston, Foote, Carlin, oder auch Schuch richtig dargestellt wird. — Nicht die Darstellung des Mystischen ist hier die Entheiligung desselben, sondern die Armuth daran bei dem Bestreben, den Leser in der Guckkasten-Nacht unbestimmter Floskeln mehr sehen zu lassen als der Kasten-Künstler selber sieht und weiß. — Die letzten Auftritte des Attila waren mir eine wahn sinnige Verschraubung aller menschlichen Empfindungen wie sie nur jetzt floriert.

d. 4 Okt.

Koeppen war diese Woche bei mir. Sein nordisch-redlicher Charakter und seine freie philosophische kraftvolle Ansicht haben mir ihn mehr gewonnen und liebgemacht (so wie dem genialen D. Langermann) als er selber vielleicht vorausgesetzt, da ich durch Nachwehen meines WechselfiebersDennoch war ich nie auf dem Krankenbette — ausgenommen einmal in der Kindheit —35 [ihn] zweimal nicht sehen konnte und Einmal aus Arbeits-Ursach. Alles übrige erzähl’ er dir selber.

Der freche Tiek sammt seiner frechen Frau und Schwester sind — nach Bernhardi — wirklich katholisch geworden, um endlich das zu sein, was du von einem Dichter so sehr foderest. Nachdem nämlich Tiek und Schlegel etc. lange genug aus poetischem Scheine und Spaße vor der h. Marie gekniet, haben sie zuletzt im prosaischen Ernste angebetet, wie Lügner am Ende sich selber glauben. So wird denn aus poetischer Form doch Stoff.

Dein Gegensatz der Wissenschaft — als Spinozismus und Pla tonismus — wird neuerlich durch Oken recht klar, der „das Zero „oder Nichtsdas er auch das Absolute nennt. zum Inbegriff der Mathematik und Gott zum „selbstbewußten Nichts macht und alle Einzelwesen zu bestimmten „Nichtsen“ folglich zu bestimmten Absolutis. Ich schrieb einmal aus Spaß, dem transzendenten Steigern bleibe nun kein noch höheres Prinzip übrig als das Nichts; jetzt sagt der wirklich, „es existiert nichts als das Nichts.“

Spaßhaft sind mir seine Sprünge wie er von o (wenn wir das römische Zahlensystem hätten, wär’ er um den ganzen Anfang aus o-Mangel gebracht) und vom leeren + und — zur Eins hinüber setzen will. Sonst in andern Fächern ist er ein trefflicher Kopf, aber durch einen Feen-Fluch der Zeit werden jetzt alle gute Köpfe, wie in Dante’s Hölle die der Heuchler, umgedreht; die andern guten köpft der Tod.

Okens Nichts ist ziemlich dem Un-Grunde gleich, den Schelling in Gott anbringt, um allda für den Teufel Quartier zu machen.

Ancillon hab’ ich noch nicht gelesen.

Deine Frage über Goethens Faust begehrt zur Antwort ein — Büchlein. Die poetische Kraftfülle darin begeistert mich. Ich weiß wol, deine Frage meint mehr die philosophische als ästhetische Schätzung. Eigentlich ists gegen die Titanen-Frechheit geschrieben, die er sehr leicht in seinem — Spiegel, wenigstens sonst, finden konnte. Aber vor der Vollendung des Werks ist kein gerechtes Urtheil möglich. Daß ihn der Teufel nur dann holen solle, wenn er einmal wahrhaft befriedigt und seelig wäre, für diesen schweren Punkt gibts mir keine Auflösung als die, daß er sich bekehrte und sein hungriges Herz durch den Himmel stillte — und dann käme der Teufel.

Mögen mir die Dämmerungen bald einen Brief von dir ein tragen. Lebe wol! Dein


J. P. F. Richter

N. S. Besser ists, ich frage dich als du mich. Nichts gibts worüber ich lieber deine bestimmtere Meinung — wovon du nur das Allgemeine in deinen Schriften gibst — hören würde und auf was ich gewiß bei einer Durchreise durch Bayreuth am öftersten gekommen wäre, als der Punkt, worüber die jetzigen Schwärmer nicht einmal viel schwärmen, weil ihnen mehr an ihrem Woher als an ihrem Wohin gelegen ist. Herder’sche, sogar zuweilen Lavatersche Analogien über das bestimmtere Ob und Wie der Zukunft sind mir gleichsam Hin- und Herschritte und Wendungen in einem finstern Bergwerk, an dem man auf dem Boden einen lichten kleinen Fleck erblickt; man trift vielleicht doch endlich mit dem Auge oben den Strahl, der ihn macht und der in den — Himmel ein wenig sehen läßt. Ich glaube jetzt einen höhern Standpunkt für (nicht über) die Unsterblichkeit zu haben als im Kampaner Thal. Freilich wie das All zu Gott, so verhält sich immer dieses Leben — mit seinem unbegreiflichen entzweieten Zwielicht — zum künftigen — — aber dich will ich darüber hören, wenn auch nur auf 1 Briefseite. — Nach dem Kampaner Thal wollt’ ich etwas Aehnliches über das „Dasein Gottes“ (vergib dieses Pinselwort der Menschlein) schreiben; hielt mich aber noch nicht für fromm d. h. würdig genug dazu. Jetzt könnt’ ich etwas viel besseres darüber sagen; aber leider! das alte Hindernis ist noch da.

2. N. S. Die alte Herder ist auch todt.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 21. September 1809 bis 4. Oktober 1809. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_160


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 161. Seite(n): 54-58 (Brieftext) und 447-448 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 4 S. 4° und 6 S. 8°. Präsentat: e. d. 13t Oct. Nach 4. Okt. (56, 12, Beginn des Oktavblattes) hat Jacobi irrig zugesetzt: 1810. K: Jacobi 21. Sept. J 1: Roth Nr. 336 und Schluß von Nr. 333. J 2: Jacobi S. 140, 146 (4. Okt. 1810) u. 138 (Schluß des Briefs v. 22. Juli 1808). B: IV. Abt., VI, Nr. 31. 55,2 sehr ernsten] aus fast blos H 5 viel] davor gestr. (zu) H vom bis 6 09] aus vor 1 Jahre H 11 viele] aus sie H 13 ganzen besten] nachtr. H 14 durchsichtiger] dünner K 24f. zuletzt] am Ende K 25 indeß] aus aber H 30 Doppelgenusse] aus Selbstgenusse H 33 solche] davor gestr. alles Mark H 56, 1f. hätt’ .... geworfen] aus würd’ .... werfen H 10 Verschraubung] aus Verdrehung H 14 Charakter] aus Karakter H 20 endlich] aus wirklich H 26 Dein Gegensatz] aus Deine Abtheilung H 57,8 Un-Grunde bis 9 machen.] von Jacobi unterstrichen 9 allda] aus einen Ort H Teufel] danach gestr. zu haben ein H 13 ästhetische] aus poetische H 16 vor der] aus ohne die H 18 befriedigt] aus glücklich H 28 einer] aus deiner H 34 Bergwerk] aus Hause oder Gewölbe H 35 man bis 37 läßt.] von Jacobi unterstr.

Wahrscheinlich erst am 10. Okt. abgegangen, vgl. Nr. 163 u. 164. Jacobi war durch die im Morgenblatt erschienenen Auszüge aus den „Dämmerungen“ veranlaßt worden, nach langer Pause wieder an J. P. zu schreiben. Er hatte u.a. den Besuch seines Jüngers Fr. Köppen angekündigt und berichtet, daß er an seinem vor 13 Jahren angefangenen Werke über Offenbarung arbeite, aber zweifle, ob er es bei seinen abnehmenden Kräften zu Ende bringen werde. Er hatte eine Abschrift seines Briefs an Goethe v. 19. Febr. 1808, worin er sich abfällig über Zacharias Werner, besonders über dessen „Attila“ geäußert, beigefügt, sowie anscheinend auch Goethes Antwort v. 7. März 1808 (s. Nr. 163; über Werner Nr. 17†). Weston, Foote, Carlin, Schuch: komische Schauspieler! Tieck selber war nicht katholisch geworden, wohl aber seine Frau, seine Töchter und seine Schwester Sophie Bernhardi. Oken: in seinem „Lehrbuch der Naturphilosophie“ (1808—11); vgl. I. Abt., XVII, 279 und Köppens „Darstellung des Wesens der Philosophie“ (1810), Vorwort, S. VIII. In Dantes Hölle haben nicht die Heuchler (ipocriti, XXIII, 92ff.), sondern die Wahrsager die Köpfe nach rückwärts gewandt (XX, 13ff). Jean Paul entnahm das Dante-Zitat wahrscheinlich aus Herders Zerstreuten Blättern, 1. Sammlung (1785), S. 245, wo sich der selbe Irrtum findet. Ancillon: Jacobi hatte wohl dessen „Mélanges de littérature et de philosophie“ (1809) erwähnt. Karoline Herder war am 15. Sept. 1809 in Weimar gestorben.