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Von Jean Paul an Ludwig Achim von Arnim. Bayreuth, 22. Juli 1810.

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Bayreuth d. 22. Jul. 1810
121,21

Haben Sie herzlichen deutschen Dank für Ihre ächtdeutsche
Schöpfung, d. h. für Ihre altdeutsche. Schon aus dem Winter-
garten, aber noch mehr aus der Dolores-Geschichte errieth ich,
daß Sie das Meisterstück des Bärenhäuters gemacht, das mir 121,25
immer wieder gefällt, obgleich ich und Cotta darin vorkommen.
Sie halten die Lachmuskeln der Leser wie Zügel in der Hand und
machen mit deren Gesichtern was Sie wollen. Gäben Sie doch
einmal ein langes blos komisches Werk! — Ihre Charaktere
sind scharf wie in Stein geschnitten; und oft ein einziges physiogno121,30
misches Beiwort (wie der fischköpfige Primaner) hält einen
Charakter gespießt wie einen Türken oder Käfer fest uns vor; wozu 122,1
noch Ihre schöne dichterische, wenn auch schneidende Unparteilichkeit
gegen alle kommt, z. B. gegen Frank, Waller, die Dolores. —
Ungeachtet der ziemlich auseinander laufenden Oberfläche der
Erzählung (nach Meisters Lehrjahren) erhebt sie sich doch zuletzt 122,5
zur Bergspitze eines zusammen fassenden 〈dramatischen〉 Ausgangs.
Auch die Gedichte scheinen zuweilen zu weit und seicht auseinander
zu rinnen. — Der Sprache sind Sie Herr und Meister, aber gar
nicht (oder absichtlich) der unbedeutenden Interpunkzion.


Verzeihen Sie die Offenherzigkeit meines Lobes und meines122,10
Tadels. Kostete mich förmliches Rezensieren nicht nach meiner
Kunst-Gewissenhaftigkeit zehn mal mehr Zeit als eignes Arbeiten:
so rezensierte ich diese Dolores; aber meine d. h. diese Meinung
kann ich ja leichter öffentlich sagen, wenn ich mir vornehme, im
Morgenblatte unter meinem Namen ein fortlaufendes Protokoll 122,15
dessen zu geben, was wider oder für meinen Geschmack gewesen,
blos als Meinung; wenigstens der Verwandte des meinigen weiß
dann, was er fliehen oder suchen soll.


Leben Sie wol! Bleiben Sie der Muse treu!


Ihr122,20
Jean Paul Fr. Richter

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Ludwig Achim von Arnim. Bayreuth, 22. Juli 1810. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_311


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 312. Seite(n): 121-122 (Brieftext) und 478-479 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin acc. ms. 1908. 29 (derzeit BJK). 4 S. 8°. K (nach Nr. 298): v. Arnim Berlin 22 Jul. i: Denkw. 3, 227. A: IV. Abt., VI, Nr. 133. 121,29 blos] aus rein- H 31f. einen Charakter] aus ihn H 32 übertrift] danach gestr. weit H 122,6 zur] davor gestr. in verknüpft H 7 weit und seicht] aus sehr H 15 ein] aus einen danach gestr. stehenden H 16 was] davor gestr. was mir gefällt H wider bis gewesen] aus nach meinem Geschmack ist H 17 der Verwandte] ein Verwandter K

Arnim hatte seine beiden 1809 erschienenen Werke, „Wintergarten“ und „ Dolores“, Jean Paul entweder selbst zugeschickt oder durch den Verlag (Realschulbuchhandlung Berlin) zuschicken lassen. Daß die in der Einsiedler-Zeitung erschienene „Geschichte des Bärenhäuters“ (vgl. 6, 8) von Brentano ist, gibt Arnim in A an. Eine Anspielung auf Jean Paul vermag ich darin nicht zu finden; auch war sich Brentano keiner solchen bewußt, der am 3. Sept. 1810 an die Brüder Grimm schrieb: „Jean Paul ... hat, ohne es zu wollen, mir ein Kompliment gemacht, indem er den Bernhäuter für das treff lichste Werk erklärt, den er immer wieder läse, obschon er (?) und Cotta darin mitgenommen würden, und von diesem kommt er auf den Schluß, auch in der Dolores sei dasselbe große Talent bewiesen — ho ho! Herr Criticus!“ (Lit. Echo, 16. Jg., 1913/14, Sp. 1721.) fischköpfige Primaner: s. Dolores, 4. Abt., Kap. 10: „einen Primaner der Stadtschule, dessen Fischkopf sehr wunderlich zu seinen feurigen Gedichten aussah...“ Protokoll im Morgenblatt: vgl. die Nachschrift von Nr. 317. Statt dessen äußerte sich J. P. in einer Fußnote zu seiner Rezension von Fouqués „Eginhard und Emma“ in den Heidelberger Jahrbüchern 1811 anerkennend, wenn auch mit Einschrän kung, über Arnims Werke, s. I. Abt., XVI, 370; vgl. auch XI, 235 (Vorschule § 70).