Edition
Korpus
Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 18. Dezember 1810.

Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



Bayreuth Dec. 18. 1810

Mein alter und verjüngter Heinrich! Wie viel Freude und Hoffnung hat mir dein letzter Brief gebracht! — Freilich deine persönliche Erscheinung wäre mehr — aber zu viel gewesen; und aller dein Verstand hätte da nicht vermocht, den meinigen aus der Freude wieder zurechtzurücken auf der Stelle. Ich halte auch den ganzen Vorsatz für einen flüchtigen sechsfach geflügelten Einfall. — Ach gieb uns doch deine Gedanken so wie sie funken- oder sternen-weise aus dir springen; was soll eine besondere steife Soldaten-Reihung im Firmament? Ich habe bei dir noch keine Wiederholungen gefunden, und zwar darum keine, weil du organisch, nicht baukünstelnd (syllogistisch) erschaffst. Kann ein Vater denselben Sohn wieder erzeugen? — Familienähnliche Brüder höchstens. Mir thun jetzt deine Schriften noth (nöthig); und Leibnitz, den ich eben wieder lese und bewundere, erinnert mich zu oft an dich. Ein solcher DoppelRiese (von Philosophie und Mathematik) ist doch nie erschienen wie er gewesen. Über seine 5 Briefe an Clarke und dessen 5 Ant worten sollte man VorlesungenBeinahe komisch weiset jeder auf seine vorige Widerlegung zurück, indeß der andere unwiderlegt immer dasselbe reproduziert. So liefen beide Parallel linien ohne Berührung neben einander fort; aber oben in der Unendlichkeit werden sie sich schon wie andre Parallellinien nach der Analysis. berührt haben. zur Gymnastik halten, um zu be weisen — was du einmal gesagt — daß auch in Wissenschaften Streiten nicht viel erobere —, ausgenommen, setz’ ich dazu, Fechterarme und Fechteraugen.

Auf deine „Seelenwanderung“ nicht durch Leiber sondern durch Seelen oder Systeme freu’ ich mich innigst; zumal in der jetzigen Zeit, wo der meiste répos im Bücher-Repositorium ist. Indeß verzagt niemand weniger an der Zeit oder Nazion als ich; oder gar an der Vorsehung. Wer überhaupt in einer Theodizée irgend ein kleines Übel mit der Gottheit zu reimen weiß, muß es auch mit jedem größeren können, da der Einwand bei Größe und bei Kleinheit derselbe bleibt, Sonnenfinsternisse und längste Nächte be decken gleich sehr die Ur-Sonne.

Stunden-lange Briefe mach’ ich oft an dich, wenn ich auf dem Kanapée liege; richt’ ich mich aber auf, so ist alles verflogen.

Göthe’s Farbenlehre hat mich durch seine wiederkehrende Mensch werdung sehr erquickt. Überhaupt bemerk’ ich an mehrerern, die sonst, wie es in London einen „höllischen Feuerklub“ gab, so zum höllischen Frost-Klub gehörten, schönes SchmelzenWie sehr mußt du wirken, da Tiek, früher dein Freund nicht, bei Ernst Wagner in Meiningen dich für einen Gott erklärte. . Freilich in Jena damals zeigte man leichter die Scham als das Herz und er röthete nur über — Thränen. Dieß hält aber das Menschenherz nicht lange aus; und ich bin überzeugt, daß eben so viele Kälte vorspiegeln als andere Wärme.

Lebe froh! Lieber kürz’ ich den Brief ab als daß ich ihn in der Absicht seiner Verlängerung, immer liegen lasse. Du gehst in ein neues Jahr; komme dir das Schöne, Frohe, Gute entgegen, das du selber uns so oft schaffend zugeführt!


Dein alter J. P. F. Richter

Schreibe bald, wenn möglich.

N. S. Ich bitte dich sehr um Verzeihung des Korrigierens. Mir ists unmöglich — und schreib’ ich an Fürsten — vorher ein Konzept des Briefes aufzusetzen; denn es hälfe auch nichts, da ich doch im Abschreiben des Konzeptes wieder ins Korrigieren hinein geriethe.

2. N. S. Ich bitte dich, hab’ ich nicht Recht? Die jetzige Zeit ist groß, aber die Menschen sind klein? — Folglich besteht die Zeit aus etwas Höhern als Menschen sind. Nenn’ es Vergangenheit oder Gottheit, beide verfließen in Eins.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 18. Dezember 1810. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_409


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 410. Seite(n): 161-162 (Brieftext) und 496 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 6 S. 8°. Mehrere Stellen von Jacobi rot angestrichen. Präsentat: e. d. 24ten. K: Jacobi Dec. 18. J 1: Roth Nr. 339×. J 2: Jacobi S. 149×. 161, 4f. persönliche] aus eigne H 8 sechsfach geflügelten] darüber Seraphinen K 9 gieb] aus gib H (vgl. 165,2 . 15 ) 11 im] aus für das H 13f. wieder erzeugen] aus zwei mal zeugen H 21 ausgenommen] aus außer H Fechterarme] aus Fechterkräfte HK 30 bleibt] aus bliebe aus ist H 32 weiset] aus verweiset H 162,2 richt’] aus setz’ H 14 zugeführt] aus entgegengeführt H, entgegengeführt K 19 schreib’] aus schrieb’ H 24 Folglich] aus Also H 31 früher] aus sonst H

Der beantwortete Brief ist nicht erhalten; vgl. aber Nr. 387. Leibnitz—Clarke: vgl. I. Abt., XVII, 457; II. Abt., V, 437, Nr. 61. Tieck bei Ernst Wagner: s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VI, Nr. 106.