Von Jean Paul an Friedrich Gottlieb Welcker. Bayreuth, 4. und 14. Januar 1811.
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Aus meinem Schweigen werden Sie schwerlich meine Freude an
Ihrem etc. Aristophanes errathen, dessen Wolken mir das Dezember-
gewölk verjagen könnten, wenn es tief auf
mich hereinhinge ...
daß Sie uns den ganzen Aristophanes
geben, den uns das attische
Museum fast nimmt, indem es ihn gibt. Ich würde meine
Freude175,25
noch stärker ausdrücken, wenn ich
griechische Gelehrsamkeit genug
besäße, um das Vor-Echo Ihrer Lobredner zu sein. Indeß
haben
Sie mich besser als einer mit diesem Genius bekannt
gemacht, dem
sogar ein Äschylos nicht gefiel und der (aber
mit Recht) einen
Sophokles vorzog. Wer an dessen Obszönitäten ein Aergernis
175,30
nimmt, sucht eines und ist selber eines. Eben so gut
wäre die ganze
Anatomie und Physiologie eine Obszönität. Eine
bei Aristophanes176,1
oder bei Juvenal oder Rabelais wirkt gerade
so sittlich als manche
französische oder wielandische Hand unsittlich, welche wie
die be-
kannte an der Venus zudeckt .... Nur
verschatten Ihnen fast ein
wenig die Wolken den Sokrates, diesen liberalern
athenischen
176,5
Kato II, das Ideal eines
Platons, das nicht einmal Aristoteles
angegriffen. Überhaupt wissen wir von Sokrates Jugend so
wenig,
als von Christus Jugend; — desto jämmerlicher; — ich
gäbe für
diese beiden Jugendgeschichten die römische und die halbe
deutsche
Kaiserhistorie; denn solche Leute sind nicht Menschen,
sondern176,10
Welten und verkörpern soweit möglich die
Ewigkeit. Mein Herz
hat indeß den rechten Sokrates nie weder
in Platon noch in
Xenophon ganz gefunden sondern in beiden widerspänstigen und
in
kleinen Anekdoten .... Fahren Sie ja — bei der Kraft
Ihres
Bundes ältester Literatur mit neuester — fort,
diesen kolossalen176,15
Satyr aus dem Schutt der Zeit
hervorzugraben, wiewol wir nur
Glieder, nicht einmal den
Torso finden ... Die Glücksgöttin sei
Ihnen so günstig als die Muse es ist!
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Gottlieb Welcker. Bayreuth, 4. und 14. Januar 1811. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_442
Kommentar (der gedruckten Ausgabe)
SiglenK (nach FB Nr. 22): Welcker [aus Welker] in Gieß. d. 4. u. 14 Jenn. i: Denkw. 3, 235. B: IV. Abt., VI, Nr. 105. A: IV. Abt., VI, Nr. 178. 175,32 siehe da] nachtr.
Welcker hatte „als ein Zeichen seiner Verehrung“ seine Übersetzung der Wolken des Aristophanes (1810) übersandt; vgl. I. Abt., XI, 123, Fußnote. Im Attischen Museum hatte Wieland Übersetzungen der Ritter (1797), der Wolken (1798) und der Vögel (1806) veröffentlicht.