Von Jean Paul an Christian Heinrich Wolke. Bayreuth, 2. August 1811.
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Verehrungswürdiger Mann! Ich habe mehr gegen mich ge
sündigt als gegen Sie, daß ich auf Ihr Schreiben und Ihr
Geschenk
mit einem so späten Danke antworte. Eine Menge Geschäfte
ließen
mich noch nicht das Studium eines solchen Sprach-
und Sach
Forschers vollenden. Nicht einmal
die Untersuchung über die214,10
Gründe des Wechsels der
beiden deutschen Sprach-Fügungen —
bald zu sagen Löwenhaupt,
Pfauenschwanz, dann wieder Thau
tropfen,
Gaugraf; bald weiblich Liebesdienst, Entenjagd, dann
Beerwanze, Saujagd; bald geschlechtlos Geschäftsträger, dann
Werkmeister — konnt’ ich durchführen, weil durchaus Gründe zu214,15
dieser anscheinenden Grundlosigkeit durch die Überzählung aller
Fälle aufzufinden sein müßen. Was aber eben wieder meine
dankende Antwort verschob, war daß ich im künftigen Jahre
die
zweite Auflage meiner Aesthetik gebe, worin diese
Untersuchungen,
nach meinen Kräften angestellt, vorkommen müßen.214,20
Ich gäbe eine halbe Büchermesse darum für die Erscheinung einer
deutschen Sprachlehre von Ihnen, durch welche Sie, wie ich höre,
mündlich eine deutsche Academia della
Crusca um sich bilden. Mit
halb wehmüthiger Freude
sieht man Sie kurz vor Ihrem Davon
und
Auffluge noch am Sprach-Gewande unserer Gedanken arbeiten,214,25
um ordentlich wie ein Elias uns den Mantel zurück zu
werfen.
Ihre Verdeutschungen sind deutsch und kräftig geschaffen. Den
noch bleiben wir beide zuweilen nicht auf Einem Wege neben
einander, woran auch vielleicht dieß Schuld ist, weil Sie
voraus
gehen. Keine der menschlichen Sprachen behauptete die
Gleich214,30
mäßigkeit ihrer Bildung
fort, sondern verba anomala und regulae
falsi erzeugten als die grammatischen
Leidenschaften, nur aber
besser, das Clinamen der Epikurs Atomen. Nichts auf der Erde
ist regel-beständig. Und warum soll denn immer die erste,
also die
fortgeleitete Form die bessere bleiben? Danken wir
alte Landes214,35
Formen, Philosophien,
Fürsten und 10,000 Dinge ab: so mögen215,1
alte
Sprach-Gleichmäßigkeiten auch daran kommen.
Nicht der Dichter, wie Sie mir schreiben, scheint mir am leich
testen Ihre so wichtigen Sprach-Umwälzungen einführen zu
können
— denn er hängt von der Gewalt des ästhetischen
Augenblicks ab215,5
und ein Wort z. B. wie „prachtig“ könnte
ein ganzes Bild zer
stören — sondern ein
Weltweiser, Naturlehrer u. s. w.
Leben Sie nicht blos wol, sondern lange!
Jean Paul Fr. Richter
N. S. Verzeihen [Sie] meinen Einschluß,
den ich als Antwort
an Maler Meier erst seit dem 25 July —
1810 schuldig bin.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Heinrich Wolke. Bayreuth, 2. August 1811. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_518
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K 1: Hofrath Wolke 2. Aug. * K 2 (von fremder, Jean Pauls Schrift nachahmender Hand, auch die Korrekturen wiedergebend): Landesbibl. Dresden, Mscr. Dresd. e 98 II, Nr. 196. i (nach K 1): Wahrheit 7, 255. A: IV. Abt., VI, Nr. 177. 214,14 bald geschlechtlos] aus dann unbestimmt K 2 29 ist] aus wäre K 2 weil] daß K 1 voraus] so K 1, nicht unterstr. K 2 32 erzeugten als] aus machten wie K 2 35 beßre K 1 bleiben] aus sein K 2
Der siebzigjährige Chr. Heinr. Wolke hatte, vermutlich veranlaßt durch die freundliche Bemerkung über seine sprachreformatorischen Vorschläge in der Vorrede zum 1. Bande der Herbst-Blumine (Aug. 1810), an Jean Paul geschrieben (nicht erhalten) und ihm anscheinend seine neueren diesbezüglichen Veröffentlichungen zugesandt, besonders den in K. Chr. Fr. Krauses „Tagblatt des Menschheitlebens“ v. 15. Jan. 1811, Nr. 10, erschienenen Aufsatz „Über das kunstreiche Ausbilden der deutschen Sprache, ihre Entfehlerung, Reinigung, Veredlung und Bereicherung“, worin u. a. die Zusammensetzung der Wörter behandelt und das Binde-S sowie der (vermeintliche) Plural des Bestimmungswortes in Acht und Bann erklärt waren. 214, 14 Beerwanze: die Wörterbücher von Grimm, Adelung, Campe kennen nur die Form Beerenwanze.