Edition
Korpus
Korrespondenz

Von Jean Paul an Emanuel. Nürnberg, 13. Juni 1812 bis 15. Juni 1812.

Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



Nürnberg d. 13. Jun. 1812 [Sonnabend]

Mein guter alter Emanuel! Noch hab’ ich den gehofften Brief von Ihnen nicht bekommen, ob ich gleich die Hoffnung auf das Briefchen gründete, das Max bei Ihnen an mich aufsetzte. — Sie gaben mir ein eignes Denkmal der Erinnerung mit, nämlich den gepackten Koffer; so wie ich Papiere nach Papieren daraus aufwickelte, so war es, als sagten Sie mir auf allen ein Liebewort, Sie klassischer Packer! Es ist ein halb wehmüthiges Gefühl, die wolwollende Mühe des abwesenden Freundes einsam vor sich zu haben. — Ich schreibe Ihnen hier von allem nichts, was Sie bei Otto zu lesen haben können, z. B. von Jacobi. Mein Frohsein — ziemlich doch gestört durch kalt-düsteres Wetter und eine kranke Fuß-Zeigezähe, welche mich nur in Schuhpantoffeln ausgehen läßt — besteht meistens in Einsamsein. Für mich ist ein einsames StübchenEinsamkeit bezieht sich auf ein neues Verhältnis; nicht in Ihrem ein sam[en] Stübchen sind Sie einsam, sondern im Döhlauer Palais. ein geistiger Brunnensaal voll Arzeneiwasser und ich heile mich von manchen Miniatür-Sünden. Ich habe — so lächerlich es klingt — jeden Tag eine kleine Unart blos durch Denken und Üben ins Gegentheil zu verwandeln und schreibe dann für jeden Morgen die auf, gegen welche weiter zu medizinieren ist. Wörtlich wahr ists. Das erste war: 1) „nichts verschiebe“ (hier mein’ ich aber nicht Verschieben wichtiger Sachen, welchen Fehler ich nie hatte, sondern kleiner, z. B. das Nachtgeschirr hinaus zu tragen, oder das Kaffeegeschirr auf den andern Tisch zu setzen. Am zweiten Tage: „erhebe dich über kleine Unlust“ d. h. krächze und ächze nicht z. B. am Morgen, wenn du erst Hemd ab- und anziehen mußt, deßgl. enge Sonntag-Strümpfe und das Übrige, bis du auf deinem Kanapée vor dem Buche ruhig zu liegen kommst. Vielmehr halte jedes überwundne Kleine für eine neue zweite, dritte Freude, bis du sitzest und liest. Am dritten Tage: „habe nach einer Gesellschaft „nichts zu bereuen, sondern sei eher zu furchtsam als zu kühn; denn, „mein Guter, so oft du mit Wolgefühl glaubst, du sprächest nur „kühn, so sprachst du schon zu kühn.“ Und so nimmt das Bessern gar kein Ende; und die vorigen Besserungen jedes Tags werden dabei immer rekapituliert. Morgen hab’ ich die jetzt leichte Besserung auf: „Setze gewaltsam dich im Zürnen mehr in die fremde Stelle als „in deine eigne.“ Dieß bezieht sich darauf, daß ich mich, zumal bei losgelassener Kraftfülle, nur ¼ Stundelang hinzusetzen brauche, um durch Aufhäufen der Phantasie mir selber gute Menschen an- und vorzuschwärzen. Und freilich ist das Recht wie das Unrecht nicht immer an meiner Seite. — Der komische Ton mache Sie nicht irre an meinem innigsten Ernst. Es gibt nun doch kein anderes Mittel im Himmel und auf Erden, das Innere zu heilen und zu beglücken als nur durch das angestrengte Innere selber; und es ist dumm, kurze Hülfen von außen für fortwährende zu nehmen.

d. 15. Morgens

Im ganzen Hause wohnen nur die alte prächtige Frau, eine 14jährige nicht schöne aber gutmüthige Nichte und die etwas ält liche aber flinke und redlicheZ. B. der Keller macht eiskalt; und da ich nun am Morgen nicht genug Eiskälte haben kann, so stellt sie mein Morgenwasser in den Keller und bringts um 6 Uhr bei Klingeln. Magd. Ich brachte dieser vom Essen zuweilen etwas Süßes mit; — aber sie theilte das Stückchen unten in 3 Stückchen für ihre Doppel-Herrschaft. Aus Freude über dieses Zusammenleben ließ ich letzterer daher für ½ rtl. Schokolade holen, da sie mir ohnehin immer noch mehr anbieten als ich brauche. — In der G[roß] H[erzoglich] Frankfurter Zeitung steht aus Posen, daß allen Officieren, bis zu den Generalen und „Königen“ hinauf befohlen sei, jeder ein Zelt und Lebens Mittel auf 14 Tage mitzunehmen. — Der König von Preußen wurde von Napoleon aus gezeichnet behandelt und sogar zuerst besucht. — Der Oberst von Ramdahl machte mich bei dem großen Monatessen im Museum zu seinem Gaste. Es waren viele Exzellenzen da; aber kein schönes Gesicht, welches — wie ich auch auf dem Museums Balle sah — das einzige Blumengewächs ist, das hier spärlich gedeiht. Übrigens find’ ich hier überall mehr altes redlichesSo wird mir meine halbe gute Bouteille Tischwein à  24 kr. redlich vom Kellner aufbewahrt, weil ich davon wieder nur die Hälfte trinke.35 Deutschthum, und unter dem männlichen und weiblichen Volke (peuple) weniger Sittenverderbnis als in Baireuth. Auch die höhern Stände findet die Monts besser als den zeitfressenden bair[euther] Adel, vor welchem sie sich eben deßwegen hieher geflüchtet; und sie billigte es ganz, daß ich (auf Kosten meines Rufs leider!) dieses Volk vom Thee tische weggebrummt. — Ich lebe hier wolfeiler als in Baireuth, wie Ihnen C[aroline] spezifizieren kann, und ich könnte ersparen, wenn ich länger bliebe. — Da hier jetzt die Hunde ein Halsband oder einen Führbindfaden haben müssen, um nicht todtgeschlagen zu werden, hab’ ich meinem eine Visitenkarte umgehängt:

Alert. Wirklicher Hund von H. Jean Paul p. f. v. p. p. c.

— Wahrscheinlich nehm’ ich meinen Rückfuhrmann aus Bai reuth; dann werd’ ich Sie, Ihre erste Güte zu wiederholen bitten müssen.

Mitwochs Morgen. Leben Sie wol; auf meinen Simultanbrief hab’ ich noch keine einzige Antwort, geschweige zwei.


Richter
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Emanuel. Nürnberg, 13. Juni 1812 bis 15. Juni 1812. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_651


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 653. Seite(n): 274-277 (Brieftext) und 538-539 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: SBa. 3 S. 4°; 4. S. Adr.: Emanuel. K: Eman. 13 Jun. J 1: Wahrheit 7, 282×. J 2: Denkw. 1, 245. A: IV. Abt., VI, Nr. 204. 274, 18f. den .... nicht] aus keinen H 22 Papiere] aus Blatt H 23 auf allen ein Liebewort] aus auf [aus darauf] ihnen etwas H 29 ausgehen] aus gehen H 275,2 Miniatür-Sünden] aus Gebrechen H 4 zu verwandeln] aus verwandelt H 7 nie] aus nicht H 8 das Nachtgeschirr] aus den Nachttopf H 12 enge] davor gestr. frische H das Übrige] aus mehr dergl. H 13 ruhig zu liegen kommst] aus liegen kannst H 17 sprächest] aus seiest H 23 hinzusetzen brauche] aus hinsetzen darf H 276,3 Doppel] nachtr. H 8 sei] aus wäre H 14 spärlich] aus nicht H 18f. vor welchem sie sich ... geflüchtet] aus dem sie ... entfloh H 21 weggebrummt] aus fortbrummte H 22 ersparen] davor gestr. viel H 27 Wirklicher] nachtr. H

275, 15—18 vgl. II. Abt., V, 288, Nr. 631. 276, 18 baireuther Adel: vgl. Nr. 619†; J 2 ergänzt unrichtig „bayerischen“. 29f. pour faire visite, pour prendre congé.