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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 21. Mai 1813 bis 26. Mai 1813.

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322,18
Baireuth d. 21 Mai 1813

Mein alt- und neu-geliebter Heinrich! Dein Herzbrief hat mich322,20
eben so sehr überrascht und erfreuet als doch betrübt. Letztes durch
deine, gewis nur augenblickliche Stimmung über die Verstimmung
der Zeit. Wie? Du Belisar sprichst einen Mitkrieger unter deinem
Kommando um einen Obulus an? Freilich wer wird unter dem
jetzigen Erdgeist nicht der alte Belisar?322,25

Auch ich habe ähnliche Verstimmungen des Augenblicks — und
dergleichen ist schon zuviel für uns bloße Augenblickmenschen — aber
der Glaube an die längere ausgleichende und aussöhnende Zukunft
kehrt mir sehr bald zurück; und ich wünschte nur, ich hätte über den
Menschen-Gang hinter unserer Erdkugel so viele Gewißheit als322,30
über den Völker-Fortgang auf derselben. Die Zweifelstelle aus
meinem Briefe in dem deinigen, bezog sich blos auf das elende kalte
Mondlicht der Metaphysik, das ein Nebenmondlicht, ja ein Mond
hoflicht ist, das oft so erbärmlich nach Zurückstrahlungen von Zurück
strahlungen der Selbersonne zu dem armen Herzen kommt, welches323,1
die Selbersonne näher in sich finden könnte, nur aber, wie des
Cartes
die Erde nannte, als soleil encrouté.


d. 24. Mai

Welche Deutschen waren besser, die von 1770—80, 90, oder die 323,5
jetzigen? Ich sage die jetzigen, alles Nebenwerk von Unglück, das
eben so gut Erdbeben, Hungernoth, Seuchen könnten gestiftet
haben, überwiegt den Gewinn der Erweckung und Stärkung nicht.


Hast du meine Traumdichtungen im 1ten Blatte des dießjährigen
Morgenblattes gelesen? Wider meine Absicht wie jeder Prophet, 323,10
bin ich einer gewesen.


Wollen wir lieber die ganze Erde, und nicht ein Stückchen an
schauen, damit wir sehen, daß mehr Länder im Sonnenschein des
Friedens liegen als unter den Wolken des Kriegs; so wie zwar in
jeder Sekunde 1 Mensch stirbt, aber auch in jeder 1⅒ geboren323,15
wird, welches also ⅒ Überschuß der Liebe- und Elternfreuden gibt.


Der Krieg, der alles steigert und zusammen drängt, steigert auch
die Hoffnungen zu einem Grade hinauf, der nie im Frieden statt
hätte, wo man alles schwächer und später erwartet; und doch klagt
man die Vorsehung über Fehlschlagen unmäßiger und vorschneller323,20
Hoffnungen an.


In meiner eben erschienenen Aesthetik sind außer kleinern Ein-
webungen folgende größere ganz neu (die unterstrichnen betreffen
dich namentlich): Vorrede zur 2ten Auflage — in der zur ersten
S. XXXI — § 4 — § 22 — 30 — 67 — 72 — 73 — 74 — XIII. Pro323,25
gramm — Nachlese über Schiller — Nachvorlesung an die Dich-
tinnen — Im 3ten Band K. 4. 5. 7. p. 910 etc. etc. 919 926 931 938
956 etc. 962.


Ich bitte dich noch einmal, lies doch meine neue Corday im
Katzenberger, damit ich in meiner Ansicht der heroischen und kühnen 323,30
Tugend entweder berichtigt oder bestärkt werde.


Anmerkungen zu deinem Hume hab’ ich mehre gemacht; aber
ich zögerte mit der Absendung, weil doch du und der Krieg wie ich
voraussah die Herausgabe verzögern würden. Könnt’ ich dich,
Guter, nur dahin bringen, daß du einen ganzen Dreiviertelband323,35
blos mit deinem hingeworfnen Diamanten-Sande fülltest, welcher
wahrlich keine neue Form von nöthen hat, da er hell und leuchtend324,1
ist. So halt’ ich deine Noten zu Schelling’s akademischer Rede über
die Schönheit etc. etc. für ein dialektisches Meisterstück; und ich rühme
dieses um so unparteiischer, da ich jene früher selber bewunderte.


d. 26. Mai
324,5

In der Dichtkunst gibt es zuweilen Maschinengötter, in der Ge
schichte nur Göttermaschinen 〈Gottmaschinen〉 (machinae ex deo).


Sage mir doch — ich bitte dich — deine in Nürnberg durch die
Eßglocke gestörte Äußerung über die Erinnerung hinter dem Tode.


Ich arbeite theils an einem großen komischen Werke — ignosce! 324,10
— theils an einer Sammlung ernster Aufsätze (unter dem Titel:
Museum von J. P.), worunter verbessert der über die ersten
Pflanzen und Thiere etc. und ein langer über den organischen Magne-
tismus vorkommt, für welchen letzten ich mich bekenne.


Ich und die Meinigen sind kerngesund. Ich wünsch’ es dir und324,15
den Deinigen; und grüße mit froher Erinnerung dein liebes
Schwesterpaar. — In deinem Hause würd’ ich dich, ohne deine und
meine Zerstreuungen, ganz anders genossen haben als in Nürnberg.
So würd’ ich da alle deine herrlichen Bruchstücke leicht in Ein
Ganzes zusammen registrieren, zumal da ich dieses Zusammenkitten324,20
der membra disjecta längst an meinen eignen Arbeiten gelernt.


Lebe froher; aber schreibe bald.



Dein
alter
Jean Paul Fr. Richter
324,25
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 21. Mai 1813 bis 26. Mai 1813. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_756


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 758. Seite(n): 322-324 (Brieftext) und 556-557 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 4 S. 4°. Präsentat: erh. den 1sten Juni, beantw. den 18 April 1814. K (nach Nr. 742): Jacobi 21 Mai. J 1: Roth Nr. 349×. J 2: Jacobi S. 164. J 3: Wahrheit 8, 3×. B: IV. Abt., VI, Nr. 226. A: IV. Abt., VI, Nr. 238. 322,24 einen Obulus] aus eine Gabe H K wird] aus ist H 27 schon zuviel] aus viel H 30 Menschen-] nachtr. H 31 Völker-] nachtr. H derselben] aus ihr selber aus dies[er] H 323,4 davor gestr. Immer kann ich die Unterbrechung [nachtr. deiner Antwort] nicht verschmerzen H (vgl. 324, 8f.) 8 Gewinn] aus Vortheil H 12 und nicht] aus als H 16 und Eltern] nachtr. H 30 in meiner] aus über meine H 36 deinem h. Diamanten-Sande] aus deinen h. Diamanten H 324,4 bewunderte] aus bewundert habe H 14 für welchen letzten] aus zu welchem H

Jacobi hatte in tiefer Depression dringend um ein Wort der Liebe, der Erweckung, der Kräftigung gebeten, so wie es Jean Paul in dem Aufsatz über den Gott in der Geschichte in den Dämmerungen und in den Sphinxen im Schlegelschen Museum gegeben habe. Er hatte aus Jean Pauls letztem Brief (Nr. 666) die Stelle über das Licht (289, 8—10) zitiert und dazu bemerkt, das sei eine harte Abweisung und erinnere an die Worte im Buch Hiob (2, 9): „Segne Gott ab und stirb!“ 322, 23f. Belisar soll im Alter, verarmt und erblindet, Vorübergehende um einen Obolus angebettelt haben; vgl. Goethes Wahlverwandtschaften II, 5. 323, 22—28 Aesthetik: die Jacobi betreffen den Stellen s. I. Abt., XI, 19, 387, 395. 324, 2 Schellings akademische Rede: „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur“ (1807). 6f. Maschinengötter — Göttermaschinen: vgl. I. Abt., XI, 216, 30f. 8f. Vgl. 289 , 5—7 .