Von Jean Paul an Johann Ernst Wagner. Bayreuth, 6. Mai 1805.
Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.
[Druck]
Den 25 April erhielt ich Ihr Manuskript. Mein Lob bezieht
sich auf das Allgemeine und Besondere, der Tadel nur auf
einiges
Besondere. Der neu und frei
schauende und empfangende Geist —
der frisch vortreibende wie
ein Mai, nicht wie ein Herbst — die
weite Um- und Einsicht
sogar in die tiefen Holzwürmer-Löcher und42,15
Windungen am
Thronsessel — und also die rechte Eigenheit ist mein
allgemeines Lob, so wie der Kunstsinn neben dem Natursinn.
Göthisch-episch und bezaubernd ist der Anfang, besonders
der
geniale Ab- und Aufzug des Mädchens, und das Ende mit den
Zigeu
nern; doch zwischen dieser
östlichen und westlichen Aurora ist nachher
42,20
manches blaue Erblassen des Himmels.
Mit Ihren Kräften muß ich denn scharf rechten und umgehen;
zumal da sie oft an die Theorie (von Göthe’s Meister) gekreutzigt
werden. Der Hauptfehler ist die Länge einzelner Gespräche
oder
gar Antworten. [
Folgen einzelne Korrekturen
] Das Zigeunerlied42,25
ist herrlich.
Schade, daß von den kommenden Gluthszenen, die ich
schon früher
gelesen, nicht hier einige noch eintreten. Sie sollten,
da der
Aufgang eines Autors oft seinen Untergang entscheidet,
sogleich
in diesen ersten Band mehr Künftiges einpressen und an
stoßen — denn Interesse wächst mit der Dicke — und einiges
Gegen42,30
wärtige von Gesprächen
wegschneiden. Sie können ja noch, indem
die Presse daran
gebiert, daran zeugen. Bedenken Sie, wie man in
Tragödien die
langweiligen Staatsverhandlungen nur durch Schlag
worte abthut und das Kabinetssekretariat auf Stichworte
ein
schränkt.42,35
Ich wünsche Ihrem freien Geiste Glück zu seiner äußern Freiheit
für seinen Wuchs und lobe und liebe Sie herzlich.
Warum sagen Sie mir nichts über meine Aesthetik?
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Johann Ernst Wagner. Bayreuth, 6. Mai 1805. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=V_103
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K (nach Nr. 101): Wagner 7 [!] Mai. J 1: Mosengeil Nr. 4. *J 2: Denkw. 3,125. B: IV. Abt., V, Nr. 46. 42, 11 25] 15 J 1 13 frei] nicht gesperrt J 1 16 Eigenheit] gesperrt J 1 21 manche blaßblaue Stelle am poetischen Himmel J 1 blaue] fehlt K 22 Ihren] gesperrt J 1 denn] fehlt J 1 24f. oder gar Antworten] fehlt J 1 K hat hier noch Naturstücke — Der Leser will gleich juristisch [?] überredet sein, nicht mit dem Laube bedeckt sondern mit den Früchten — 25 f. Herrlich ist das Zigeunerlied. J 1 27 einige noch] noch einige mit J 1 29 in bis 30 Dicke —] in diesem ersten Theil mehr Künftiges ahnen lassen J 1 31 Sie bis 32 zeugen.] so J 1, fehlt J 2 34 das] so K J 2, ein ganzes J 1 43,1 freien] fehlt J 1 4 Warum bis Aesthetik?] so J 1, fehlt J 2
Vgl. zu Nr. 95. 42, 26 Gluthszenen: nach Mosengeils Vermutung in dem Lustspiel, aus dem die „Reisenden Maler“ entstanden waren, und das Jean Paul schon in Meiningen gelesen hatte (s. Bd. IV, zu Nr. 227).