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Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 28. Dezember 1806 bis 30. März 1807.

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137,22
Bayreuth d. 28 Dec. 1806 .

Du und Fürsten allein können es machen, daß ich auf einem ganzen
Bogen anfange, diese, weil ich ihnen Platz lassen, du, weil ich selber137,25
einen haben will, um mit dir ein Wort — obwol blos auf meinem
Kanapee, worauf ich, Kinder und Hund und Kanarienvogel ihren gei-
stigen Gehalt auslassen — zu reden. — Ich bin in Bayreuth geblieben
— und mein Muth war nicht der Mühe werth; denn es war nichts
zu bekämpfen; leicht wie eine Gewitterwolke voll Abendsonne zog137,30
die Schlagwolke des Kriegs über das Land hin und traf erst fern
von uns; als Aurora wird sie, hoff’ ich, umkehren und heim
ziehen.


Den schönen Herbst, der zu dir geführet hätte, sperrten mir138,1
Levana und der Krieg zu. Ich weiß aber gewiß, daß der März hell,
kalt, reis’bar wird; — und dahin vertröst’ ich mich in meiner Nach
barschafts-Armuth. Wahrlich das einzige Geistreiche, was einem
noch begegnet, ist, daß es etwas Unglück gibt, das zu bekriegen ist.138,5
Denke dir den deutschen Sumpf nur auf 50 Jahre noch fortge-
standen mit seiner grünen Priestleyschen Materie, diese wahre
materia peccans des Jahrhunderts. Freilich zeigt das Durchwühlen
des Sumpfes Schlamm oben; aber unten war er doch früher.


— Und so muß man, als eine lebendige unwillkürliche Figura 138,10
Praeteritionis von allem sprechen, was man zu übergehen denkt;
ich meine von Politik.


... Ich habe Fichte’s neueste Drillinge gelesen. 1. Die Vorgeburt
über die Gelehrten gelte denn als Nachgeburt. 2.


d. 25. März 1807.
138,15

Trefflicher! Vergib mir meine Sünde gegen mich selber. Blos
weil ich an dich die längsten Briefe schreiben will, schreib’ ich so viele
kurze an andere, deren Antworten mich nur wie Zeitungen inter
essieren, daß ich zu nichts komme, nämlich zu keiner Antwort von
dir. Genug, was hilft Reuschreiben über Nichtschreiben ohne Handeln?138,20
— Du bist schriftstellerisch auch in diesem Falle. — Das Schlimmste
ist dann für mich, daß ich über allem Neuen, das ich dir sagen muß,
dann das Alte vergessen, was ich auch sagen wollte.


Haben die Zeitungen mehr Recht als bei kleinern Siegen,
daß du wirklich die Akademie organisiert und der König die Wieder- 138,25
geburt getauft mit seinem Namen? —


Über deinen Magen, deine Augen, vier Gehirnkammern, Lungen
flügel und deine Einbildungen davon wünsch’ ich dein Wort; ob ich
gleich — nach meiner metereologisch-pathologischen Prognose —
diesen leichten Vor- und Spiel-Winter für einen Freund deiner138,30
Natur ansehe, wenn nicht der Nachwinter alles verlorne Böse ein
holt. — Vergilt mir ja nicht, Guter, mein Böses mit Schlimmern,
sondern sage mir sogleich alles über Akademie und Leib.


Ich werde täglich gesünder — gesund bin ich ohnehin — aber139,1
auch dümmer; vielleicht eben darum. Ich spüre in mir mehr das
Gebähren als Erzeugen. Himmel, wie liebt’ ich sonst nicht meine
Sachen, ehe kaum das Streusandfaß darüber gekommen war!
Jetzt muß die Presse erst ihnen einigen Glanz aufdrücken 〈aufplätten〉139,5
bei mir. So war ich z. B. in Angst über meine Levana; — und doch
hör’ ich, will sie mancher loben. Ich weiß nicht, was du thust; aber
(dieß ist mein Schreib-Jammer) erst jetzt thu’ ichs auch. — — Ich
bitte ernstlich um deine mir so starke reiche Meinung.


Vor einem Monate steckte ich ganz im organischen Magnetismus139,10
von Wienholt, der drei redliche Bände davon geschrieben. Ich bin
— und zwar schon seit Gmelin — dafür; ich sag’ es aber hier nur,
um zu fragen, ob er dir nicht wenigstens so viel Marter-Reitze
wegspielen könnte, daß du wenn nicht deinen Allwill endigtest, doch
deine Jupiters Kette gegen die Nihilisten. Wenn das Schicksal 139,15
dich, mit deiner Seh-Kraft und Fühl-Kraft zugleich, nicht schöner
stellen konnte als gerade in unsere Zeit hinein, wo die Spekulazion
mit Höhen nach Höhen (nur warens keine dichten Berge) den
Riesensturm gegen den Himmel unternahm: so dauert es mich
desto mehr, daß deine körperliche Lage deine geistige Stellung nicht139,20
begünstigt. Gibt es denn gar keinen Wahrheits-Freund, der dich
bestiehlt, alles notiert, numeriert, ordnet und am Ende sich einbildet:
er habe das Meiste errathen? — Ich bin überzeugt, daß du in Ge
sprächen gerade die Kraft verschwendest, die du den Büchern auf
sparst, aber aus Körper-Angst und Druck nicht zu geben hoffest;139,25
und du wirst philosophisch so bestohlen von Zuhörern wie Herder
und Goethe artistisch. —

d. 30. M[ärz]

Was ich dir über Fichte schreiben wollen, hab’ ich zum Glück für
deine Weile rein vergessen. Nur dieß weiß ich noch, daß mir139,30
das Buch über den Gelehrten am kahlesten und das über das
seelige Leben am besten vorgekommen. Wie er aber mit seinem
rohen Idealismus — der den Begriff zu Gott dem Vater macht —
und sonst, mit dir zusammen zu kommen glauben kann, oder mit seinem140,1
ihm fremden leeren Nachsprechen über Religion und Liebe, dieß
erklär’ ich mir — leicht, weil er niemand lieset und versteht als sich
und dieß nur halb. Was du längst in deinem Hume für den Idealis-
mus gesagt, und so hundert andere Antiken, bringt er als seine140,5
Novitäten vor uns. Er mag nachsinnen und nachsprechen so viel er
will, er zeigt doch, daß niemand über sein Gemüth hinaus, philo
sophieren kann. Daß ihn Schelling (und die L[iteratur]Zeitung)
recht zwickt und kneipt, gefällt mir sehr; nur daß jener wieder sein
duo auch nach einem Singularis dekliniert und unus, una, unum 140,10
nach einem Plural; und wie alle die Frage für die Antwort hält.
Aus Platons Parmenides konnt’ er sich Stützen und Einwürfe
holen. Übrigens gefällt mir an Fichte der energische Karakter und
die edle Prosa.


In deinem Anti-Koerte ist mir und deinen a[ndern] Freunden die 140,15
treffliche Stelle über Freundschaft blos darum nicht so sehr auf
gefallen — bei der Kenntnis deines Systems und Herzens —,
weswegen in einer Demantgrube der Grubenherr derselben mit einem
Solitaire im Ringe nicht so viel Aufsehen erregen würde als etwa
damit am Traualtar.140,20

Lieber Heinrich, spare ja deine Antwort nicht lange auf; ich habe
Erquickung in diesem abmattenden Bayreuth und noch mehr das
Wiederanschauen deiner Liebe nöthig. Von meiner Reise nach
München werd’ ich — jetzt ausgenommen — nicht mehr und nicht
eher sprechen als ein Paar Mai-Tage vorher, oder auch Junius- 140,25
Tage. Denn der July wird so schlecht als die beiden Vormonate
schön. Ich wollte, ich hätte dir meine Wetter-Augurien, die ich
am Oktober auf ein ½ Jahr andern gegeben, schriftlich geschenkt,
da mit du wüßtest, wie wenig ich lüge und betrüge.


Lebe wol, mein theuerer Heinrich. Gott gebe, daß dein Schweigen140,30
nur in mir die böse Ursache hatte. Ich grüsse deine Schwester-Dio-
skuren, die dich, an jedem Arme eine, sanft durch das Leben führen.



J. P. F. Richter

N. S. Wenn ich jemand z. B. Eschenmaier nach dem ersten
Eindrucke zu stark lobe (besonders Schelling): so mein’ ich und fühl’ 140,35
ich nur den Geist, der sich ausspricht, nicht die einzelnen Sätze. Bei
Gott, ich nehme jetzt jedes transszendente Werk mit wahrer Kälte141,1
in die Hand — oder aus Scherz — oder zur Gymnastik —; aber
leider ohne alle Hoffnung, meine dürstende Seele in diesen arabischen
Wüsten, mit einer Quelle Wahrheit zu stärken, so sehr auch diese
Wüsten wie ihre Urbilder, durch Stralenbrechung von weitem141,5
Meere vorspiegeln.


In meiner Levana mußt du die Stellen von Kants Idealen der
Vernunft blos auf die Sittlichkeit einschränken.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 28. Dezember 1806 bis 30. März 1807. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=V_335


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 5. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1961. Briefnr.: 336. Seite(n): 137-141 (Brieftext) und 321-322 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 8 S. 4°. Präsentat: Legations Rath Richter e. d. 7ten Apr. 1807. b. d. 11ten May. K: Jacobi v. 28 Dec. bis 29 März. J: Jacobi S. 122. B: IV. Abt., V, Nr. 105. 137,27 und Kanarienvogel] nachtr. H, fehlt K geistigen] nachtr. H 31 das Land] aus uns H 32 umkehren und] wieder K 138, 6f. noch fortgestanden] aus fortstehen aus stehen H 8 peccans] danach gestr. et agens H 10f. unwillkürliche Figura Praeteritionis] aus Figura Praeteritionis wider Willen H 11 zu übergehen] davor gerade K 28 Einbildungen] aus Meinungen H 34–37 die Note steht oben auf der 3. Seite auf dem Kopfe H 139,14 wegspielen] vielleicht wegspülen H 17 hinein] danach gestr. *) und a. R. gestr. *) Sage, in welcher Zeit H 140, 2 ihm] davor gestr. nachgesprochnen H leeren] nachtr. H 5 andere] fremde K 6 nachsinnen] aus eindringen H 11 und bis hält] nachtr. H 12 Einwürfe] Zweifel aus Beweise K 18 der Grubenherr derselben] aus ein Mann HK 32 sanft] nachtr. H 35 zu] nachtr. H, so K 35 besonders Schelling] aus so auch Fichte H

138,13 Fichtes neueste Drillinge: „Über das Wesen des Gelehrten“, „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“, „Anweisung zum seligen Leben, oder Religionslehre“, sämtlich Berlin 1806 erschienen. 139, 10 Arnold Wienholt, „Heilkraft des thierischen Magnetismus“ (1802—06); Exzerpte daraus im 39. Band (Sept. 1806); vgl. Jean Pauls Aufsatz „Muthmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus“ im Museum (I. Abt., XVI, 9—43). 12 Eberhard Gmelin, „Über thierischen Magnetismus“ (1787—89). 140, 3 Fichte liest und versteht niemand: vgl. Bd. III, Nr, 179, 137, 17 f. u. I. Abt., XVI, 343,33f. (Rezension der „Reden an die deutsche Nation“). 8 Schelling: in der Schrift „Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre“ (1806) und in der Rezension der Schrift „Über das Wesen des Gelehrten“ in der Jenaischen Allg. Literaturzeitung, 26. u. 27. Juni 1806, Nr. 150f.; vgl. I. Abt., XVI, 344,10. 15 Anti-Koerte: s. Nr. 226; die Stelle über Freundschaft S. 11f. 34 Eschenmaier: s. 95, 8ff. 141, 7f. Levana: I. Abt., XII, 373, 10 .